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Physiologie: Das Verdauungssystem des Pferdes

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft: „Fit statt fett: Richtig füttern“, das nur noch als E-Paper erhältlich ist.
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Weniger ist manchmal mehr. Das gilt besonders in der Pferdefütterung. Viele Besitzer meinen es zu gut mit ihren Lieblingen. Da wird alles darangesetzt, die Mahlzeiten möglichst lecker, abwechslungsreich und reichhaltig zu gestalten. Das Verdauungssystem des Pferdes ist damit allerdings schnell überfordert. Es ist zwar in gewisser Hinsicht anspruchslos, weil es nicht viel braucht, um störungsfrei arbeiten zu können. Auf Fütterungsfehler reagiert es dafür aber umso empfindlicher.

Der lange Weg der Nahrung
Einen wesentlichen Einfluss auf den Verdauungsvorgang und damit die Gesundheit des Pferdes hat bereits die erste Station, das Maul, wie die Mikrobiologin, Tierärztin und Geschäftsleiterin der Firma iWEST Tier-Ernährung Dr. Dorothe Meyer deutlich macht: „Sobald das Pferd die Nahrung hinter die Schneidezähne gebracht hat, beginnt reflektorisch der Kauvorgang. Die Backenzähne zermahlen das Futter, wobei die Seite, auf der gekaut wird, im Minutentakt gewechselt wird.“ Der Speichel wird dabei ausschließlich mechanisch freigesetzt (anders als beim Menschen oder beim Hund, bei denen bereits der Anblick von Nahrung die Speichelproduktion anregt). Und das in nicht unerheblicher Menge: 50 bis 90 Milliliter pro Minute Kauzeit. So kommt es bereits an dieser Stelle zu ganz wesentlichen Unterschieden beim Verabreichen von Heu und Kraftfutter, erklärt Dorothe Meyer: „Ein Kilogramm Kraftfutter kaut das Pferd in rund zehn Minuten, ein Kilo Heu dagegen in etwa 40 Minuten. Gehen wir von diesen Richtwerten aus, bedeutet das die vierfache Speichelmenge beim Kauen von Heu.“ Eine Tatsache, die im weiteren Verlauf von großer Bedeutung sein wird – wie auch die Fähigkeit des Pferdes, das Futter ausreichend zu zerkleinern. „Gut gekaut ist halb verdaut“, sagt Dorothe Meyer. Mit anderen Worten: Ein intaktes Gebiss ist eine wesentliche Voraussetzung für eine gut funktionierende Verdauung.

Über die Speiseröhre (Schlund) wird die Nahrung zum Magen transportiert. „Das Abschlucken erfolgt im 30-Sekunden-Takt“, fährt die Expertin fort. „Im Normalfall wird nur das abgeschluckt, was nicht länger als 16 Millimeter und im Durchmesser nicht größer als ein bis zwei Millimeter ist.“ Bei großem Hunger und hastigem Fressen kann es aber passieren, dass größere Stücke in die Speiseröhre gelangen. Das kann zu einer lebensbedrohlichen Schlundverstopfung führen. Dies gilt auch für rasch quellfähige Futtermittel: „Unmittelbar vor dem Mageneingang befindet sich eine Erweiterung der Speiseröhre, in der der Futterbissen etwa eine halbe Minute verbleibt. Quellen Futtermittel wie zum Beispiel unaufgeweichte Cobs durch den Speichel auf, können sie ebenfalls eine Schlundverstopfung verursachen.“
Von der magenähnlichen Erweiterung aus wird das Futter in den Magen „geschleudert“, wie Dorothe Meyer es formuliert. Im vorderen, drüsenlosen Teil des Magens (kuppelförmiger Blindsack) findet zunächst eine bakterielle Vorverdauung statt. „Gelangt hygienisch nicht einwandfreies, verkeimtes, gärendes Futter in diesen Bereich, kann es dort zu Gasbildung bis hin zu Magenzerreißungen kommen“, warnt die Tierärztin.
„Der Magen ist auf kontinuierliche Futteraufnahme ausgelegt“, betont Dorothe Meyer. „Fresspausen, die länger als drei bis vier Stunden dauern, sind beim Pferd nicht vorgesehen.“ Der Magen produziert daher kontinuierlich Magensäfte – und das in großer Menge: Fünf bis zehn Liter pro 100 Kilogramm Körpergewicht werden innerhalb von 24 Stunden nonstop abgegeben. „Der Umfang der Magensaftsekretion hängt von der Art des Futters ab und wird auch vom vegetativen Nervensystem beeinflusst: Stress erhöht die Magensaftproduktion“, ergänzt die Expertin. Eine wichtige Rolle spielt an dieser Stelle der Speichel: „Er enthält, anders als beim Menschen, keine Verdauungsenzyme, dafür aber Bicarbonat. Dieses puffert die im Magensaft enthaltene Salzsäure ab.“ Dadurch wird eine Übersäuerung des Magens verhindert. Der Speichel lockert zudem den Nahrungsbrei auf – je mehr Speichel, umso lockerer und umso besser vorbereitet ist der Mageninhalt für die anschließende Verdauung.

Nachdem im Magen ein Teilaufschluss erfolgt ist und die zerkleinerte Nahrung am Magenausgang durchmischt wurde, gelangt sie nach etwa ein bis fünf Stunden in den Dünndarm. Hier geht es flott voran: Der Dünndarm ist mit rund 20 bis 30 Metern sehr lang; die Zeit, in der die Nahrung ihn passiert, beträgt dennoch lediglich eineinhalb Stunden, wobei sie durch Peristaltik (wellenförmiges Zusammenziehen) des Darms mit 35 Zentimetern pro Minute vorangeschoben wird. Dies erfolgt unabhängig von der Art des Futters.
Im Dünndarm findet ausschließlich enzymatische Verdauung statt: Durch in der Bauchspeicheldrüse produzierte Verdauungsenzyme werden Eiweiße und Kohlenhydrate (in Form von Stärke und Zucker) zu Aminosäuren und Glucose umgewandelt, die in den Blutstrom aufgenommen werden. Ein Teil der Glucose steht nun als Energiequelle zur Verfügung, indem sie in Form von Glycogen in die Muskulatur und die Leber eingelagert wird. Der andere Teil der Glucose-Fette wird durch in der Leber produzierte Galle in freie Fettsäuren aufgespalten und so für die Verdauungsenzyme angreifbar.
„Im Dünndarm wird nur enzymatisch verdaut“, betont die Mikrobiologin. Rohfaser wie die Zellulose kann hier nicht abgebaut werden. Sie wandert, ebenso wie nicht ausreichend im Dünndarm abgebaute Nahrungsbestandteile, weiter in den Dickdarm.

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Zu viel Stroh kann beim Pferd Probleme verursachen.

Im Dickdarm findet ausschließlich mikrobielle, also durch Mikroorganismen verursachte Verdauung statt. „Die Verdauung wird im Dickdarm sehr langsam. Die Nahrung verbleibt hier etwa 35 bis 44 Stunden“, erklärt Dorothe Meyer weiter. Ein Pferd kann deshalb auch im Fall einer Kolik, die im Dünndarmbereich ihre Ursache hat, noch einige Zeit Kot absetzen. Die Futterexpertin beschreibt den Dickdarm als eine Art Biogasanlage. In seiner ersten Station, dem Blinddarm, herrscht eine extrem hohe Bakteriendichte. Diese Bakterien haben die Aufgabe, die bisher unverdaute Nahrung, insbesondere die Rohfasern, durch Zersetzung abzubauen. Bei der Fermentation im Dickdarm werden flüchtige Fettsäuren wie zum Beispiel Essigsäure gebildet, die zur kontinuierlichen Energiegewinnung zur Verfügung stehen. „Dies ist für das Pferd besonders wichtig, da seine Glycogenreserven im Muskel begrenzt sind und die kurzkettigen Fettsäuren einen wesentlichen Beitrag zur Energieversorgung leisten.“
Ein Nahrungsbestandteil kann auch im Dickdarm nicht abgebaut werden und wird daher unverdaut ausgeschieden: das Lignin. Dabei handelt es sich um eine Gerüstsubstanz in den Pflanzenzellen, die für das Standvermögen der wachsenden Pflanze zuständig ist. Während es in jungem, weichem Gras kaum vorhanden ist, findet es sich verstärkt in Stroh, holzigem Heu und überständigem Gras. „Je kleiner diese Futtermittel zerkaut werden, umso besser wird das Lignin aufgebrochen und der Komplex zerstört. Durch die Fütterung vieler ligninreicher Futtermittel – zum Beispiel übermäßig viel Stroh – kann es zu Anschoppungskoliken kommen“, warnt die Futterexpertin und ergänzt: „Von der Art und Menge der Rohfaser hängt auch ab, wie gut das Pferd Wasser und Elektrolyte speichern kann. Sie werden im Dickdarm von der Zellulose und Hemizellulosen (Vielfachzucker) aufgesaugt wie von einem Schwamm und stehen dann bei Bedarf ausreichend zur Verfügung. Ist das körpereigene Wasser- und Elektrolytreservoir zu gering, drohen bei hohem Schweißverlust lebensbedrohliche Störungen.“

Konsequenzen für die Fütterung
Der Verdauungsvorgang beim Pferd ist sehr anfällig für Störungen, die durch falsche Fütterung verursacht werden. Es gilt daher einige grundsätzliche Dinge zu beachten. „Das Pferd ist ein hoch spezialisierter Grasfresser und ein Dickdarmfermentierer“, fasst die Fachtierärztin für Tierernährung und Diätetik Prof. Dr. Ellen Kienzle von der Ludwig-Maximilians-Universität München zusammen. Fermentation bedeutet die chemische Umwandlung von Stoffen durch Bakterien und Enzyme. „Die Mikroorganismen im Darm benötigen den kontinuierlichen Zufluss eines mäßig fermentierbaren Materials. Das ist qualitativ gutes Heu mit einem hohen Faseranteil und – nicht zu junges – Gras“, betont sie. „Magen und Dünndarm können nur in geringem Maß fermentieren. Das Pferd hat wenig körpereigene Amylase, das ist das Enzym, das zur Stärkeverdauung notwendig ist. Es ist daher kein guter Stärkeverwerter.“ Kohlenhydratreiche Futtermittel wie Kraftfutter, Trockenschnitzel oder auch junges Gras sind in der Natur auf dem Speiseplan des Pferdes nicht vorgesehen. Sie sollten daher, wenn überhaupt, nur in kleinen Portionen gefüttert werden. Das gilt auch deshalb, weil diese Futtermittel schnell gären und so zu Fehlgärungen in Magen und Darm führen können: „Die hier stattfindenden normalen Gärungsprozesse sollen langsam ablaufen. Zu schnelle Gärung führt beim Menschen zu Magenschmerzen, Übelkeit und schließlich zum Erbrechen. Da das Pferd nicht in der Lage ist, sich zu erbrechen, kann es bei ihm sehr schnell bedrohlich werden und zu Krampfkoliken oder sogar Hufrehe kommen.“ Heu ist immer vor dem Kraftfutter zu reichen, betont Ellen Kienzle: „Wenn das Kraftfutter gefüttert wird, sollte das Pferd bereits einen erheblichen Teil seiner Heuportion gefressen haben, damit viel Speichel und damit Flüssigkeit im Magen ist.“

Beide Expertinnen machen deutlich: Das Raufutter sollte, auch unter Berücksichtigung des Kaubedürfnisses des Pferdes, immer die wesentliche Energiequelle sein. Sie sind auch davon überzeugt, dass nicht nur leichtfuttrige Robustrassen, sondern ebenso Warmblüter in der Regel ohne Kraftfutter, allein mit Heu, gut auskommen. „Ein Dressurpferd leistet selbst bei intensivem Training kaum mehr als leichte Arbeit und verbrennt entsprechend nicht viele Kalorien“, so Ellen Kienzle.

Fütterung und Haltungsbedingungen in der Praxis – oft ein Dilemma
Selbst wenn der Pferdebesitzer kundig und bemüht ist, lassen sich nicht immer alle Anforderungen an eine optimale Fütterung umsetzen. Das gilt zum Beispiel auch für
Fresspausen. „Lange Fresspausen sind weniger für den Darm, aber vor allem für die Magengesundheit problematisch. Die allgemein angenommene Obergrenze von vier Stunden ist allerdings nicht ganz sicher belegt“, berichtet Ellen Kienzle. Sie gibt zu bedenken, dass dieser Zeitraum in einer Gruppenhaltung, in der die Pferde tagsüber im Auslauf stehen, oft schwer einzuhalten ist. Wird den Pferden im Auslauf Heu angeboten, können sich andere Probleme ergeben: „Wenn die Pferde im Winter Heu, aber kein Wasser haben, steht nicht genug Flüssigkeit für die Fermentation zur Verfügung und es kommt zu Verstopfungskoliken. Viele Heuraufen sind zudem sehr verletzungsträchtig. Rundballen, die mehrere Tage an der Luft liegen und feucht werden, gammeln, was zu Fehlgärungen führt. Ständiges Heuangebot lässt leichtfuttrige Pferde schnell verfetten. Und Futtermaschinen sind auch nicht für alle Pferde geeignet. In Untersuchungen wurde zum Beispiel festgestellt, dass zehn Prozent der Pferde in Fressständen, wie sie in Aktivställen genutzt werden, Panikattacken bekommen – und Stress führt bekanntlich auch zu Magengeschwüren.“ Je nach den Umständen kann es ihrer Meinung nach daher manchmal besser sein, längere Fresspausen in Kauf zu nehmen, sofern das Pferd nicht extrem magenempfindlich ist. Sie empfiehlt grundsätzlich, nach individuellen Lösungen zu suchen.

Mehr über Dr. Dorothe Meyer erfahren Sie im Internet unter www.iwest.de und über Prof. Ellen Kienzle unter www.ernaehrung.vetmed.uni-muenchen.de
Die Autorin Karin Ottemann ist Volljuristin, Dressurreiterin und Osteopathische Pferdetherapeutin.
Lesetipps:
Dorothe Meyer: „Stress bei Pferden: Erkennen und behandeln“, Kosmos, 2007
Josef Kamphues, Manfred Coenen, Ellen Kienzle: „Supplemente zu Vorlesungen
und Übungen in der Tierernährung“, Schaper, Neuauflage 2009
Reinhold Bergler, Tanja Hoff, Ellen Kienzle: „Psychologie der Mensch-Pferd-Beziehung bei jungen Reiterinnen: Theoretische Grundlagen und empirische Ergebnisse“,
Roderer, 2011
Gillian Higgins: „Die Organe des Pferdes“, Kosmos, 2013
Bodo Hertsch: „Anatomie des Pferdes“, FN-Verlag, 2012

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Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft: „Fit statt fett: Richtig füttern“, das nur noch als E-Paper erhältlich ist.