Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft „Reiten lernen und lehren“.
Wohl kaum eine Sportart hat so viele Facetten wie die Reiterei. Unterschiedliche Reitweisen, aber auch verschiedene Ansichten und Ausprägungen, kurzum verschiedene „Wahrheiten“ machen es schwer, zu beurteilen, wie „gutes“ oder „schlechtes“ Reiten aussieht. Die meisten Reiter wollen das Beste für ihr Pferd. Doch was das ist und wie der Weg dahin aussieht, darüber gehen die Meinungen oft auseinander. Noch dazu fällt es naturgemäß schwer, sich und die eigene Leistung realistisch einzuschätzen. Wir haben versucht, herauszufinden, wie Reiter erkennen können, ob sie sich auf dem falschen Weg befinden, und wann es höchste Zeit ist, Hilfe in Form von Unterricht oder Beritt in Anspruch zu nehmen.
Reiter lernen ein Leben lang. „Daher“, so Gudrun Schultz-Mehl, „sollten sie auch ein Leben lang Unterricht nehmen. Zumindest wenn ich das Wort ‚Unterricht‘ auch als ‚korrigierende Unterstützung‘ verstehe.“ Die ehemals alleinige Redakteurin der Zeitschrift „St. Georg“ war selbst ihr Leben lang begeisterte Reiterin und hat ihre Erfahrungen bereits an zahlreiche Reitschüler weitergegeben. „Ohne qualifizierte Unterstützung wird der ‚Normalreiter‘, insbesondere der Anfänger, leicht zum Pferdequäler“, meint sie.
Der Idealfall ist in der Praxis jedoch nicht immer gegeben. „Manchmal ist einfach niemand da, der helfen könnte, oder es fehlt das nötige Kleingeld für qualifizierten Unterricht oder Beritt“, bemerkt Gudrun Schultz-Mehl. Was auch immer der Grund ist, oft nehmen Reiter erst dann Hilfe in Anspruch, wenn sie mit ihrem Pferd bereits massive Probleme haben. Oder sie unternehmen nichts, weil sie überhaupt nicht bemerken, dass sie auf einem falschen Weg sind. Wie also kann der Reiter feststellen, dass er fachliche Hilfe benötigt?
Handlungsbedarf besteht in jedem Fall dann, wenn die Kommunikation zwischen Reiter und Pferd gestört ist. Gudrun Schultz-Mehl erklärt, was das bedeutet: „Der Reiter kommt mit seinem ‚Wollen‘ und seinen Hilfen nicht durch. Das Pferd reagiert nicht und geht seine eigenen Wege. Häufig kann der Reiter das Tempo nicht regulieren. Im Trab und Galopp sitzt er ausgesprochen unangenehm und unsicher.“ Sie bringt das Problem auf den Punkt: „Der Reiter findet nicht das ‚Glück der Erde‘ auf seinem Pferd.“ Als Beispiel nennt sie das Reiten auf dem Zirkel: „Das Pferd driftet an der offenen Seite nach außen weg und wechselt dabei nicht selten auch die Hand. Der Reiter ist ihm bei diesen selbständigen Unternehmungen sichtbar hilflos ausgeliefert.“ Beim Schenkelweichen mit Stellung zum Inneren der Bahn sei oft zu beobachten, dass das Pferd einfach nach vorn weglaufe,
erklärt sie.
Manchmal sind die Probleme noch offensichtlicher, zum Beispiel, wenn das Pferd beginnt zu steigen. So weit muss es nicht kommen, wenn der Reiter bereits auf erste Warnzeichen achtet, die noch verhältnismäßig unauffällig sein können. „Dazu gehören Unmutsäußerungen des Pferdes wie Ohrenanlegen oder Schweifschlagen. Außerdem können Verhaltensweisen wie Eiligwerden oder im Tempo verharren Vorboten für weiteres Unheil sein“, meint Gudrun Schultz-Mehl.
Reichhaltige Erfahrungen mit gestörten Reiter-Pferd-Beziehungen hat Peter Kreinberg. Sein Ausbildungskonzept „The Gentle Touch“ für leichtes und feines Reiten basiert auf Verständnis und Verständigung. Nach seiner Erfahrung resultieren Konflikte zwischen Reiter und Pferd häufig aus Verständigungsproblemen, die wiederum durch Denk- oder Bewegungsblockaden des Reiters verursacht werden. Doch wie erkennt der Reiter, ob die Verständigung funktioniert? „Verständigung bedeutet Lenken und Leiten in jeder Situation“, erklärt er. Der Reiter sollte sich fragen: „Folgt das Pferd nur aus Gewohnheit oder tut es das auch außerhalb des gewohnten Rahmens und der gewohnten Umgebung? Wie fühlt es sich an? Wie gelingen die Übergänge – sind sie weich und harmonisch oder mit Störungen verbunden?“ Häufig entstünden Konflikte auch dann, wenn versucht werde, „ein Problem im Problem zu lösen“. Als Beispiel nennt Kreinberg das Üben fliegender Galoppwechsel: „Wenn die Wechsel nicht gelingen, übt der Reiter wieder und wieder die Lektion, anstatt einen Schritt zurückzugehen. Der Galoppwechsel ist das Produkt eines systematischen Aufbauprozesses. Gearbeitet werden muss also zunächst an Dingen wie der Temporegulierung und der Rahmenerweiterung und -verkürzung.“
Eine Vielzahl der Konflikte ist nach seiner Ansicht systembedingt: „Ich sehe das als eine Ausbilderproblematik an. Unser Ausbildungssystem ist im Bereich der verschiedenen Reitweisen oft zu sehr am Sport ausgerichtet und leistungsorientiert“, kritisiert Kreinberg. „In der Vergangenheit gab es eine klare Trennung der Kampagne-Schule, die die Grundlagen der Reiterei vermittelte, und der Hohen Schule, die allein der ästhetischen Kultivierung diente und denjenigen vorbehalten war, die das dafür notwendige Können und die Mittel hatten. Heute gibt es diese Trennung nicht mehr und die turniersportliche Sichtweise dominiert nicht selten die Ausbildung. Die Messlatte wird dadurch häufig für Pferd und Reiter zu hoch gehängt und der Freizeitreiter, der immerhin die breite Masse bildet, wird leicht in eine Richtung gedrängt, die er vielleicht gar nicht einschlagen möchte.“ Das nach Kreinbergs Meinung in Deutschland besonders stark ausgeprägte Leistungsdenken führe auch zu einem viel zu hohen Anspruch und falschen Vorstellungen des Reiters: „Er will auf einem zu hohen Niveau einsteigen. Das ist wie mit Sandalen auf den Mount Everest zu klettern.“
Eine Lösung des Problems setzt für Kreinberg als logische Konsequenz vor allem die Veränderung des Ausbildungssystems voraus: „Der sogenannte Breitensport, ich bevorzuge den Begriff ‚Erholungsreiten’, macht eine andere Ausbildung notwendig als der Vereinssport. Es wäre möglich, sich dabei am Prinzip der Kampagne-Schule in einer zeitgemäßen Form zu orientieren. Sie bot mit einfachen und klaren Strukturen die Gewähr für eine funktionale Grundausbildung. Diese war besonders auf Reiter und Pferde auf einfachem Niveau ausgerichtet und verfolgte das Ziel, die Pferde gesund zu erhalten und sicheres und kontrolliertes Reiten zu vermitteln.“ Wichtig ist ihm, das Selbstverständnis der Reiter zu verändern: „Der ‚normale‘ Reiter sollte sich – und das ist ganz und gar nicht negativ – als Handwerker sehen, nicht als Künstler. Und“, so fügt er hinzu, „Würde und Wohlergehen des Pferdes müssen immer Priorität haben.“
Auch wenn es keine deutlichen Konflikte gibt, können Reiter und Pferd auf einem falschen Weg sein – sei es nach dem Verständnis der Reitlehre oder im Hinblick auf die Gesunderhaltung des Pferdes, die eines der obersten Ziele in der Reiterei sein sollte. Für Peter Kreinberg sind Fälle, in denen „das Pferd so reagiert, wie der Reiter will und er daher gar nicht merkt, dass vielleicht Takt oder Losgelassenheit nicht gegeben sind“, diejenigen, die das vielleicht größere Problem darstellen. „Den Reitern fehlt oft das Bewusstsein oder das Gefühl dafür, dass sie falsch trainieren und dass das, was sie tun, nicht förderlich ist.“ Dies sei jedoch nicht als Vorwurf an die Reiter zu verstehen, betont er. Denn auch die Ursachen für ihr fehlendes Problembewusstsein lägen häufig im System: „Die sport- und leistungsorientierte Ausrichtung hat eine Reihe von negativen Entwicklungen an der Basis zur Folge: Wir sehen teilweise stark überzogene Ausprägungen der Reitweisen und die Ausbildung von Modetrends. Es wird viel experimentiert. In der Pferdeszene befindet sich leider eine große Zahl von Menschen auf einem Selbstfindungstrip, und das Pferd wird dabei instrumentalisiert.“
Fälle, in denen Reiter aus Unwissenheit erst (zu) spät oder gar keine Hilfe in Anspruch nehmen, kennt auch Gudrun Schultz-Mehl zur Genüge: „Häufig merken sie gar nicht, dass etwas nicht im Lot ist. Viele überschätzen ihre Fähigkeiten und halten es nicht für möglich, dass sie selbst die Ursache für gewisse Probleme sein könnten oder wollen es zumindest nicht eingestehen.“ Sie bringt es so auf den Punkt: „Ein Reiter muss schon sehr gut sein, um zu erkennen, dass er Probleme hat.“
Dennoch: Eine erfolgreiche Selbstüberprüfung durch den Reiter ist möglich. Sie setzt allerdings seine Bereitschaft voraus, sich selbst und seine bisherigen Überzeugungen kritisch zu hinterfragen. Peter Kreinberg empfiehlt dabei folgendes Vorgehen: „Der Reiter muss zunächst den Ist-Bestand feststellen, sich also fragen: Wo stehe ich?“ Gemeint ist eine realistische Einschätzung, auf welcher Stufe zwischen der eigentlichen Grundausbildung im Sinne der Kampagne-Schule und der Hohen Schule der Reiter sich tatsächlich befindet. „Hier wären allerdings realistische Bewertungshilfen notwendig, die dem Reiter eine bessere Orientierung ermöglichen“, räumt er ein. Der nächste Schritt könne sein: „Die Überprüfung der Zäumung. Sie ist wichtig für die Frage: Geht mein Pferd gegen die Hilfen? Konkret geht es um die Punkte Verständigung, Lenkbarkeit und Kontrolle. Welche Ausrüstungsgegenstände setze ich ein, um diese Kriterien zu erfüllen, und wie wirken sie? Ein Reiter, der zum Beispiel nur mit einem Stangengebiss in der Lage ist, sein Pferd zu kontrollieren, sollte sich eingestehen, dass er an einem Punkt ist, an dem er Hilfe braucht.“
Weiterhin müsse das Augenmerk darauf gerichtet sein, wie sich die natürliche Bewegungsform des Pferdes entwickelt: „Stelle ich fest, dass sie sich verschlechtert hat, das Pferd geht zum Beispiel schleppend oder es haben sich sogar schon Taktfehler eingeschlichen, dann besteht dringender Handlungsbedarf.“ Erst nach dieser Selbsteinschätzung könne der Reiter die nächsten Fragen angehen: „Was ist machbar und wie gehe ich vor?“
Kreinberg selbst versucht auf seinen Veranstaltungen, durch praktische Präsentationen von förderlichem und fehlerhaftem Handeln die Reiter zu sensibilisieren und ihr Problembewusstsein zu schärfen. Für die tägliche Arbeit zu Hause hat er noch einen Tipp: „Häufig ist es ja so, dass die Reiter die Fehler bei anderen Reitern sehen, nicht aber die eigenen. Dann können Videoaufzeichnungen eine wertvolle Hilfe sein.“ Zum Abschluss legt er allen Reitern eine Lektüre ans Herz: „Die neu überarbeiteten Richtlinien, Band 1, sind wirklich sehr gut gelungen und wieder näher am Pferd. Sie können auf jeden Fall helfen, die Reiter auf den richtigen Weg zu bringen.“
Gudrun Schultz-Mehl erinnert noch einmal daran, was die „klassische Dressur“ eigentlich ausmacht: „Der Reiter soll richtig auf sein Pferd einwirken und dabei seinen guten Sitz nicht verlieren. Das Pferd soll durch gutes und richtiges Reiten gesund erhalten werden und Freude an der gemeinsamen Bewegung mit seinem Reiter haben.“ So schwer es auch sein mag, die eigenen reiterlichen Fähigkeiten einzuschätzen – wer sich diese Grundsätze wirklich zu Herzen nimmt, ist auf einem guten Weg. (Karin Ottemann)
Checkliste: Alarmstufe rot! Braucht mein Pferd Beritt?
Die Liste kann selbstverständlich nur Anhaltspunkte bieten.
Doch wer einen oder mehrere Punkte mit „ja“ beantwortet, sollte sich ernsthaft darüber Gedanken machen, ob er sich nicht Unterstützung bei einem Ausbilder sucht.
Am Boden:
Schon am Boden beginnen die Probleme, die sich in der Regel unter dem Sattel weiter fortsetzen:
– Mein Pferd lässt sich nicht einfangen
– Mein Pferd rempelt und rüpelt oder drückt mich zur Seite, wenn ich es führe
– In einer Schrecksituation rennt mein Pferd mich um
– Mein Pferd zwickt, beißt oder tritt
– Mein Pferd tritt mir auf die Füße
– Beim Putzen steht es kaum still
– Es gibt die Hufe nur widerwillig
– Beim Satteln/Trensen legt es die Ohren an, schlägt mit dem Schweif
– Beim Aufsteigen bleibt es nicht still stehen
Unterm Sattel:
– Mein Pferd ist beim Reiten dauerhaft unzufrieden, es legt die Ohren an
oder schlägt mit dem Schweif
– Das Pferd reagiert nicht auf meine Hilfen und geht seine eigenen Wege
– Ich kann das Tempo nicht bestimmen: mein Pferd rennt weg oder verhält sich
– Ich sitze unbequem und unsicher
– Ich habe Angst beim Reiten
– Ich kann mein Pferd nur in gewohnter Umgebung kontrollieren
– Die Übergänge von einer Gangart zur anderen sind hart und unharmonisch
– Die Grundgangarten meines Pferdes werden schlechter
– Mein Pferd macht Taktfehler
– Mein Pferd steigt, buckelt oder geht durch
– Ich kann mein Pferd (auch nur in bestimmten Situationen) nur mit
scharfer Zäumung reiten
– Ohne Sporen und Gerte geht mein Pferd nicht vorwärts
– Mein Pferd versteht nicht, was ich von ihm will
– Mein Pferd ist widersetzlich
Mehr zu Peter Kreinberg finden Sie unter
www.peter-kreinberg.de
Lesetipps:
Gudrun Schultz-Mehl: „Junge Pferde selbständig nach der
klassischen Reitlehre ausbilden“, Olms, 2010
Peter Kreinberg: „The Gentle Touch – Die Methode für
anspruchsvolles Freizeitreiten“, Kosmos, 2007
Marlitt Wendt: „Vertrauen statt Dominanz. Wege zu einer neuen Pferdeethik“, Cadmos, 2010
Karen Pryor: „Positiv bestärken – sanft erziehen. Die verblüffende Methode, nicht nur für Hunde“, Kosmos, 1999/2006
Der Artikel ist aus unserem Heft 2/2013 „Reiten lernen und lehren“. Mehr Infos zum Heft und eine Bestellmöglichkeit finden Sie hier.
Diesen Artikel finden Sie hier auch in französischer Sprache.