Ausbildung auf zwei Ebenen: Physisch und psychisch
Die Ausbildung eines jungen Pferdes findet auf zwei Ebenen statt: einerseits wird das künftige Reitpferd physisch für seine Aufgabe fit gemacht, also sein Körper trainiert. Da auch nach etlichen tausend Jahren Reitpferdezucht ein Pferd nur bedingt in der Lage ist, einen Menschen auf seinem Rücken zu tragen, sollten diese Bedingungen sehr sorgfältig geschaffen werden, um späteren Schaden am Trageapparat zu vermeiden.
Die andere Ebene ist die psychische, auf die hier genauer eingegangen werden soll. Das Pferd muss lernen, was die Menschen von ihm wünschen. Wie aber lernen Pferde überhaupt?
In einem Leben ohne Menschen lernen Pferde von:
* ihrer Mutter
* ihren Herdengenossen
* durch externe Reize
* durch Ausprobieren, also durch Erfolg und Misserfolg
Das anzureitende Pferd ist in der Regel zwischen drei und fünf Jahren alt. Es hat also bereits eine sehr wichtige Entwicklungsphase hinter sich. Es ist äußerst hilfreich, etwas über diese Jahre des Jungpferdes zu wissen, denn das hilft, das erste Training individuell darauf abzustimmen. Im Idealfall ist das Pferd in einem sozialen Herdenverband aufgewachsen. Meist handelt es sich nach dem Absetzen um geschlechtergetrennte Jungpferdegruppen. In Deutschland werden im bereits die Fohlen halfterführig und schmiedefromm gemacht. Das anzureitende Pferd ist in der Regel also kein Wildling mehr, sondern der Besitzer kann – hoffentlich! – bereits auf eine gewisse Grunderziehung im Umgang zurückgreifen. Ist dies nicht der Fall, muss das unbedingt als erstes nachgeholt werden und eine Auffrischung schadet sowieso nie. Leider müssen auch für die Ausbildung negative Vorerfahrungen des Jungpferdes eventuell einkalkuliert werden.
Sobald man sich dem neuen Schützling nähert, beginnt auch schon die Erziehung, denn: JEDER UMGANG MIT DEM PFERD IST AUSBILDUNG!
Soziales Fluchttier Pferd
Das Pferd reagiert doppelt sensibel auf seine Umwelt: einerseits als Wesen, das in einem komplexen Sozialverband lebt und die Körpersprache seiner Herdengenossen genau registriert. Und zwar so fein, dass wir Menschen, die sich nur auf verbale Kommunikation verlassen, es überhaupt nicht wahrnehmen können. Zum zweiten ist das Pferd ein Fluchttier, das seiner Umwelt gegenüber stets absolut offen ist, um im Notfall sofort reagieren zu können.
Positiv können wir uns also diese unglaublich sensible Aufnahmefähigkeit des Pferdes zu Nutze machen. Wir können körpersprachlich mit einem Pferd kommunizieren, ehe das Pferd gelernt hat, unsere menschlichen Kommandos einzuordnen. Außerdem können wir äußere Reize einsetzen, um das Pferd reagieren zu lassen.
Zudem ist das Pferd ein soziales Wesen. Es kennt sowohl eine Hierarchie als auch Freundschaften – oder Feindschaften. Es fühlt sich in Gesellschaft sicherer und überlässt seine Sicherheit auch anderen Mitgliedern seiner Herde, sofern es ihnen vertraut. Auch Menschen können eine solche soziale Verbindung mit dem Pferd eingehen. Dabei spielt die Rangordnung zwar eine Rolle, darf aber nicht als despotische Dominanz missverstanden werden. Wer einmal eine intakte Pferdeherde beobachtet hat, kann feststellen, dass Freundschaften mehr zählen als Rangfolgen. Ein relativ rangniedriges Pferd kann mit einem ranghohen Pferd befreundet sein und in seiner Gegenwart von dessen Rang profitieren. Die übrigen Pferde werden dies respektieren.
Vom Bekannten zum Neuen
Es ist bekannt, dass jegliche Form von Stress (dazu gehört auch Angst) das Lernen blockiert. Das ist bei Pferden nicht anders als bei Menschen. Oberstes Gebot bei der Ausbildung muss also sein, eine sichere, stressfreie Atmosphäre zu schaffen. Wenn wir vertraute Sozialpartner für unser Pferd sind und keine unverständlichen Dinge fordern, wird das Pferd schnell lernen.
Wie lernt ein Pferd? Vor allem in kleinen Schritten und vom Bekannten zum Neuen. Geht man von einem bei Menschen aufgewachsenen Pferd aus, kennt dieses Pferd in der Regel
* die natürliche Körpersprache durch den Herdenverband
* Hierarchie und Freundschaft
* dass Menschen ungefährlich sind
* sich von Menschen anfassen zu lassen
* ein Halfter zu tragen
* sich führen zu lassen
Auf diese Elemente, und auf keinen Fall mehr, kann man aufbauen, wenn ein junges Pferd in Arbeit genommen wird. Wenn also in der ersten Zeit etwas nicht klappt, ist fast immer davon auszugehen, dass wesentliche Verständnissschritte übersprungen worden sind und das Pferd einfach nicht versteht was es tun soll. In kleinen Schritten serviert, lernen Pferde hingegen sehr schnell. Dabei spielt vor allem die Wiederholung immer gleicher Vorgehensweisen die entscheidende Rolle. Beispiel: Wenn das junge Pferd lernen soll, das Stimmkommando „Ho“ mit dem Anhalten zu verbinden, muss die Körpersprache des Ausbilders eindeutig sein und das Kommando muss IMMER „Ho“ lauten und nicht mal „Ho“, mal „Brr“, mal „Halt“ oder mal „Halt endlich an, du verdammtes Vieh!“ Bekannt ist dem Pferd in dieser Situation die Körpersprache und erlernt wird das unbekannte Kommando. Wenn jetzt richtiges Verhalten, also Anhalten, immer belobigt, falsches Verhalten aber ignoriert und bis zum Erfolgsfall die Aktion wiederholt wird, lernt das Pferd, dass „Ho“ Anhalten bedeutet und wird dies irgendwann auch ausführen, ohne die Körpersprache sehen zu müssen.
Der jeweilige Übungsinhalt muss unbedingt so klein gehalten werden, dass er für das Pferd begreifbar ist! Dabei ist es von Pferd zu Pferd individuell verschieden, wieviel es erfassen kann. Grundsätzlich kann man jedoch davon ausgehen, dass ein junges Pferd, das gerade erst in die Arbeit genommen wird, sich nur auf sehr kleine Übungsinhalte konzentrieren kann. Je rascher auf den gegebenen Impuls hin eine Reaktion des Pferdes erfolgen kann, umso schneller kann der Ausbilder loben. Das wiederum führt zu schnellen Lernerfolgen, auch wenn auf dem ersten Blick die vielen, kleinen Schritte zeitaufwändig erscheinen.
Lernen lernen
Pferde sind, wie alle Lebewesen, unterschiedlich lernfähig. Das betrifft sowohl ihr Lerntempo, als auch ihre absolute Aufnahmefähigkeit. Junge Pferde sind in der Regel zwar sehr aufnahmefähig, jedoch nicht über einen längeren Zeitraum. Bei einem dreijährigen Pferd, das neu in die Arbeit genommen wird, erschöpft sich die Konzentration oft schon nach zehn Minuten. Dies hat einerseits etwas mit der geistigen Entwicklung des Pferdes zu tun, andererseits aber auch damit, dass diese jungen Pferde das Lernen an sich noch nicht gelernt haben. Sie haben, um auf einen Vergleich der körperlichen Entwicklung zurückzugreifen, noch keine Kondition im Sich-Konzentrieren. Lernfähigkeit ist ebenso trainierbar wie körperliche Ausdauer oder Muskelkraft. Je mehr man einem Pferd beibringt, desto lernfähiger wird es in der Regel.
Je reizärmer ein junges Pferd aufgewachsen ist, desto schwerer wird ihm das Lernen erst einmal fallen und umgekehrt. Das Tempo beim Ausbilden muss dem Lerntempo des Pferdes unbedingt angepasst werden. Wer zu schnell vorgeht, wird Unverständnis und somit Unmut oder Angst des Pferdes hervorrufen. Wer aber mit einem vierbeinigen Einstein zu langsam arbeitet, kann auf kreative Gegenvorschläge des gelangweilten Schülers stoßen, die nicht immer erwünscht sind.
Gut überlegte Konditionierung
Pferde werden in ihrer Ausbildung vor allem konditioniert. Konditionierung bedeutet den konsequenten Zusammenhang zwischen Reiz, Reaktion und Ergebnis. Dabei kann man in der Pferdeausbildung auf Lob oder Strafe setzen. Strafen muss man zwangsläufig dann, wenn die Reaktion des Pferdes anders ausfällt als gewünscht. Dabei reicht die Skala der Strafe von Nicht-Belohnen über Wiederholung der Lektion oder einen scharfen Stimmbefehl bis zum mehr oder weniger harten Einsatz der Gerte. Ein kluger und erfahrener Ausbilder kann von vornherein durch sorgfältige Planung so vorgehen, dass das Pferd fast nur richtig, also wie gewünscht, reagieren kann. Wer immer überlegt handelt und in kleinen Schritten vorgeht, kommt erst gar nicht in die Lage, strafen zu müssen! Dies ist ein elementarer Gedanke, den man sich in der Ausbildung junger Pferde vor Augen führen sollte. Wer so sorgfältig plant, dass das Pferd fast immer richtig reagiert, kann fast immer loben.
Die Skala des Lobens erstreckt sich vom Nicht-Wiederholen der Lektion über Pausen, Stimmlob bis zur Futterbelohnung. (Nur die Abwesenheit von Tadel sollte man keinesfalls als Lob ansehen!) Dies schafft eine sehr positive Atmosphäre und das Pferd wird gern etwas mit seinem Ausbilder unternehmen. „Arbeit mit dem Menschen macht Spaß und ist lecker“, könnte die vermenschlichte Vorstellung eines Pferdes lauten, das so ausgebildet wird. Abgesehen vom Wohlfühlaspekt für das Pferd schafft es übrigens auch Sicherheit für den Reiter, denn ein Pferd, das in ungewohnten Situationen nicht auch noch Angst vor Strafe für Fehlreaktionen hat, wird berechenbar und ansprechbar bleiben. Es wird im Zweifelsfall erst einmal abwarten, was passiert oder sich einen Weg suchen, an eine Belohnung zu kommen – also etwas tun, was es bereits gelernt hat, z.B. stehen bleiben statt panisch davonzurennen. Positive Konditionierung ist also auch für den Menschen sicherer.
Situation und Aktion
Pferde verbinden Situationen und Aktionen miteinander. Übt man am selben Ort immer dieselben Dinge, wird das Pferd diesen Ort damit verbinden – und zwar positiv wie negativ. Macht es an einem Ort eine schlechte Erfahrung, wird es sich an diesem Ort künftig unwohl fühlen. Es sollte also jedem Ausbilder wichtig sein, die Reitbahn nicht zu einem Ort werden zu lassen, den das Pferd mit „unangenehm“ assoziiert. Und wer immer bei A anhält, muss sich nicht wundern (und darf auf keinen Fall strafen), wenn ein Pferd dies bald von selbst tut. Es kann aber hilfreich sein, bestimmte neue Abläufe zunächst immer in derselben Situation zu üben. Rituale geben Pferden Sicherheit. Sobald diese Abläufe jedoch in sich sitzen, sollte man sie auch in anderen Situationen üben, um das Pferd nicht unflexibel zu machen.
Beispiel Aufsteigen:
Zunächst wird am besten immer am selben Platz, im selben Muster aufgestiegen. Vielleicht gewöhnt man sich an, vorher eine Runde zu führen. Dann nachgurten, wieder eine Runde führen, das Pferd auf einen bestimmten Platz stellen, dort wird von links aufgestiegen und das Pferd dann von oben mit einem Leckerli fürs Stehenbleiben belohnt. Ein solches Vorgehen beugt Gurtzwang vor und lässt Reiter und Pferd in Ruhe „ankommen“. Das Aufsteigen ist für das junge, unbalancierte Pferd ein unangenehmer Vorgang. Das damit verbundene Leckerli weckt jedoch eine positive Erwartungshaltung. Außerdem lockert das Kauen den Unterkiefer des Pferdes, was jegliche erste Zügeleinwirkung erleichtern wird.
Gerade aufgestiegen
Nach einiger Zeit wird das junge Pferd bei diesem Ablauf mit Sicherheit ruhig und artig beim Aufsteigen stehen bleiben – und wahrscheinlich den Kopf zum Sattel wenden, um den „Leckerli-Einwurf“ zu erleichtern. Variieren kann man nun zunächst den Platz, wo aufgestiegen wird. Dann die Seite, von der der Reiter aufsteigt. Und bald gibt es nicht jedes Mal ein Leckerli – was neu und besonders war, muss allmählich normal werden.
Letztlich wird auch hier wieder vom Vertrauten zum Neuen hin gearbeitet. In kleinen Schritten ausgeführt, ist das kein Problem. Wer jedoch mit einem Schlag Ort, Ablauf und Belohnungsritual ändert, bekommt mit Sicherheit Schwierigkeiten. Schwierigkeiten provozieren jedoch Situationen, in denen im besten Falle nicht gelobt, im schlimmsten Falle gestraft werden muss – manchmal zur eigenen Sicherheit unausweichlich.
Geritten werden ist nicht natürlich für ein Pferd
Es klingt banal – aber man kann von einem Pferd nichts erwarten, was man ihm nicht beigebracht hat! Ein Reitpferd muss in so vielen Dingen gegen seinen Instinkt, gegen seine Natur handeln, dass man ihm schon die Chance geben muss, das zu lernen, was von ihm gewünscht wird. Dies sollte man sich immer wieder klarmachen, wenn man ein Pferd in die Ausbildung nimmt. Die drei wichtigsten Einwirkungsmöglichkeiten des Reiters – Stimme, Zügel, Schenkel – stellen für ein Pferd unnatürliche Reize dar und müssen vom ihm also allesamt erlernt werden!
Die Remonte: unnatürliche Reize des Reiters
Das Pferd lernt von Natur aus
* durch seine Umwelt und seine Herdengenossen
* vom Bekannten zum Unbekannten
* in kleinen Schritten
* am besten in einer stressfreien Atmosphäre
* durch Wiederholung, Lob und Tadel
Ein Satz ganz zum Schluss: Ein unverdorbenes Jungpferd ist fast immer bereit, mit dem Menschen zusammenzuarbeiten. Wenn es nicht wie gewünscht reagiert, sollte der Ausbilder immer als erstes hinterfragen, ob das Pferd verstanden hat, was es tun soll und ob es körperlich in der Lage ist, das Gewünschte auszuführen. Wer dies als Ausbilder nicht tut, hat die eigene Lektion nicht gelernt.(Sandra Will)
Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft 1/2006 „Motivation von Reiter und Pferd“, welches in unserem Sammelband 2006 enthalten ist.