Schau mir in die Augen, Kleines: „Was fühlt das Reitpferd?“
Das Buch gibt es auch in unserem Shop.
Mimik und Körpersprache des Pferdes sind für Menschen naturgemäß erst einmal eine Fremdsprache. Nur wer sie zu verstehen lernt, kann mit Pferden eine buchstäblich „verständnisvolle“, positive Beziehung aufbauen. Beim Erlernen egal welcher Sprache ist eine gute Sprachlehre bekanntermaßen Gold wert. Deshalb ist „Was fühlt das Reitpferd?“ von Marlitt Wendt für mich ein Lieblingsbuch, das jedem ans Herz gelegt sei, der sich ernsthaft für das Ausdrucksverhalten von Pferden interessiert. Es handelt sich um ein echtes „Lehrbuch Pferdesprache“, das die subtile Kommunikation von Pferden nicht nur verständlich erklärt, sondern auch anhand von mehr als 200 Bildern „sichtbar“ und damit nachvollziehbar macht.
Als Verhaltensbiologin (Ethologin) beschäftigt sich Marlitt Wendt seit vielen Jahren mit der Psyche und dem Verhalten von Pferden sowie der Kommunikation zwischen Pferd und Mensch und ist als Autorin etlicher Bücher
zu diesen Themen bekannt. „Was fühlt das Reitpferd?“ nimmt unter diesen eine Sonderstellung ein, weil es sich – der Titel sagt es – explizit mit dem Ausdrucksverhalten des gerittenen Pferdes befasst. Das ist deshalb von Bedeutung, weil die meisten Menschen ihre Pferde in erster Linie als Reittiere halten und die Interaktion von Pferd und Mensch deshalb zu einem großen Teil beim Reiten stattfindet. Doch gerade beim Reiten kommt es zwischen Reiter und Pferd zu Missverständnissen und Schwierigkeiten, wenn Empfindungen wie Stress, Angst oder Schmerzen, die Pferde durch ihre Mimik und ihre Körpersprache zunächst oft nur subtil zum Ausdruck bringen, entweder nicht erkannt oder aber ignoriert und abgewertet werden. Reagiert wird oft erst dann – und meist nicht im Sinne des Pferdes –, wenn das Pferd zu deutlicheren Mitteln greift, die sich nicht mehr übersehen lassen.
Das Buch umfasst fünf Hauptkapitel. Das erste Kapitel befasst sich mit den Grundemotionen des Pferdes und stellt das von dem Psychologen Jaak Panksepp formulierte Modell der sieben Emotionssysteme (SEEKING, FEAR,RAGE, LUST, CARE PANIC/GRIEF und PLAY) vor, das sich ausnahmslos auf alle Säugetiere anwenden lässt. Weil die Handlungen und das Verhalten aller Tiere von Emotionen bestimmt und gesteuert werden, ist es wichtig, diese Emotionen erkennen und benennen zu können.
Das zweite Kapitel erläutert die mimischen und körpersprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten von Pferden im Detail: Die Mimik mit der Ohrenstellung, dem Augenausdruck, der An- oder Entspannung der Gesichts- und Kaumuskulatur, der Sichtbarkeit und Füllung der großen Blutgefäße am Kopf, dem Pferdemaul und den Nüstern, die Körpersprache mit dem Muskeltonus, der Kopf- und Halshaltung und der Schweifhaltung.
Das dritte Kapitel widmet sich der Kommunikation am Boden und beim Reiten: Hier werden Beschwichtigungssignale, Meideverhalten sowie typische Anzeichen emotionaler Anspannung und Stress besprochen. Eine zentrale Fragestellung dabei ist, wie Pferde Schmerz eigentlich empfinden. Fotoanalysen zu den einzelnen Punkten der Ausbildungsskala zeigen die Kriterien von Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Geraderichtung und Versammlung sowie zu Dehnungsbereitschaft und Durchlässigkeit auf. Stress, Schmerzen, Angst, Aggressionen und Depression zu erkennen und ihre Ursachen zu verstehen, ist Inhalt des vierten Kapitels. Diese Emotionen spiegeln sich in der Mimik des Pferdes am deutlichsten wider und sind beim gerittenen Pferd leider auch häufig anzutreffen. Aufgezeigt werden die verschiedenen Stressindikatoren sowie die typische Stress- und Schmerzmimik.
Bis zu diesem Punkt behandelt das Buch ausschließlich die negativen Emotionen und das entsprechende Ausdrucksverhalten des Pferdes. Das fünfte Kapitel zeigt dagegen, wie Pferde positive Emotionen ausdrücken und wie es aussieht, wenn sie beim Reiten und im Umgang entspannt, motiviert und zufrieden sind. Die zentrale Frage ist hier, wie der Weg zu einer harmonischen Pferd-Reiter-Partnerschaft aussehen kann und welche
Rolle dabei liebevoller Umgang, die innere Einstellung und Wertschätzung spielen.
Das große Verdienst dieses Buches liegt für mich darin, dass es den Blick dafür, was Gesichtsausdruck und Körpersprache von Pferden beim Gerittenwerden verraten, nachdrücklich schärft – auch, indem es Missstände, wie sie etwa in der Sport- oder auch in der Showreiterei oft nicht von der Hand zu weisen sind, klar und unverblümt benennt. Hier legt Marlitt Wendt den Finger in die Wunde, indem sie darauf hinweist, dass viele Reiter bis hin zum Profi gar nicht in der Lage sind, Emotionen beim Pferd richtig zu deuten einfach, weil das oft gar nicht Teil der Reitausbildung ist. Die gute Anlage wird häufig schon im Keim erstickt: Bereits Kinder lernen in der Reitschule, sich „durchzusetzen“, aber nicht, warum das Pferd vermeintlich ungehorsam oder „stur“ reagiert. Oft werden auf Pferde menschliche Kategorien wie Bosheit oder Faulheit angewendet; das Tier wird vermenschlicht und seine Handlung zwangsläufig falsch beurteilt. Die Signale, mit denen Pferde Unwohlsein mitteilen, werden als Anstellerei und Ungehorsam abgetan und die Pferde durch Strafe „mundtot“ gemacht. Auf diese Weise können Reiter nicht lernen, wie sich eine harmonische Partnerschaft mit dem Pferd, die diese Bezeichnung auch verdient, anfühlt.
Und doch wird nicht verurteilt, ohne dass gleichzeitig ein Gegenentwurf präsentiert wird: Es geht auch anders, Pferde können sich mit Menschen und beim Reiten sogar sehr wohlfühlen! Das zu erreichen ist der Ansporn, den das Buch seinen Lesern mit auf den Weg gibt und ihnen gleichzeitig Mut macht, dass dieses Ziel für jeden und nicht nur für ein paar Begnadete erreichbar ist. Die Voraussetzung dafür ist die bewusste Entscheidung,
die Botschaften, die das Pferd sendet, nicht nur einfach zu „sehen“, sondern sie auch richtig deuten zu lernen – und danach zu handeln.
„Was fühlt das Reitpferd“ ist interessant für alle, die mehr über das Ausdrucksverhalten und die Kommunikation von Pferden erfahren wollen. Auch wer Pferde schon recht gut „lesen“ kann, lernt aus diesem Buch noch dazu. Die Fotoanalysen und die umfangreiche Bebilderung ermöglichen Vergleiche und Erkenntnisgewinn: Es wird leichter, die eigene Kommunikation mit Pferden ganz bewusst zu erleben, sie zu überdenken und zu verbessern – und in vielen Fällen auch, Pferde überhaupt als (Kommunikations-)Partner wahrzunehmen.
Letztlich spiegeln Pferde uns: Wer einen Partner haben möchte, muss ein Partner sein. „Ärgere dich nie über dein Pferd, du könntest dich genauso gut über dein Spiegelbild ärgern“, brachte der Schriftsteller und Pferdemann Rudolf C. Binding es einst auf den Punkt. Wie recht er hatte! (Cora von Hindte-Mieske)