Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft „Angst und Aggression beim Menschen!“
Während wir beim Teamtreffen der Dressur-Studien | Fair zum Pferd noch hitzig diskutieren, wann es gilt, zugunsten eines misshandelten Pferdes einzugreifen, ahne ich noch nicht, dass ich kurze Zeit später unfreiwillig in genau diese Situation geraten würde.
Die Situation
Ein sonniger, kalter Tag im April. Zusammen mit Nico Welp, ehemals Vorsitzende der „Pferdehilfe pro Equine“, bin ich auf dem Weg ins tiefste Ruhrgebiet. Ziel ist ein Reitverein mit angeschlossener Reitschule. Dort steht Lümmel, ein 25-jähriger Wallach, der rund fünfzehn Jahre als Schulpferd im Einsatz war. Doch seit einiger Zeit hat der Braune eine Sehnengeschichte, ist nicht mehr einsetzbar und muss nun weg. Der „treue Begleiter“
sucht einen Platz für den Ruhestand. Nico und ich wollen schauen, ob Lümmel ein Kumpel für Orgu sein könnte. Wie Reitvereine mit ausgedienten Schulpferden umgehen, ist übrigens eine ganz eigene, traurige Geschichte wert – die an dieser Stelle nicht erzählt werden soll.
Der Schatzmeister des Vereins und zwei Frauen, denen Lümmel ans Herz gewachsen ist, empfangen uns freundlich. Der Wallach steht in einer Außenbox und schaut skeptisch hinaus. Ihn einfach herauszuführen, geht nicht – da braucht es Geduld. Sobald er unter der Türzarge hindurchgehen muss, springt er zurück und steigt. „Wir wissen nicht, woher das kommt. Das muss noch aus der Zeit stammen, bevor er zu uns kam“, heißt es. Draußen am Anbindebalken beginnt er sofort zu koppen. „Auch das war schon immer so“, erfahren wir.
Nachdem wir uns noch etwas unterhalten haben, gehen wir Richtung Parkplatz und stehen vor der Reithalle. Plötzlich ertönt ein schrilles: „Dir werde ich es zeigen. Los, alle raus aus der Reithalle. Macht die Türe zu!“ Drei junge Mädchen laufen aus der Halle, schließen die Tür. Es wirkt nicht so, als ob sie das zum ersten Mal erleben. Nico und ich schauen uns fragend an. Der Schatzmeister plaudert munter weiter, während die beiden Frauen ebenfalls Fragezeichen im Gesicht haben. Ich versuche zu lauschen, was sich in der Halle abspielt, da öffnet Nico die Tür – und nach einem Blick sagt sie: „Ihr müsst sofort kommen!“ In der Halle bietet sich folgendes Bild: Eine junge Bereiterin Anfang zwanzig scheucht einen offensichtlich jungen Hengst im „Freilauf“ herum. Er ist gezäumt und gesattelt, die Steigbügel baumeln herunter. Das Pferd ist so eng ausgebunden, dass die Nase auf die Brust gedrückt wird. „Hör sofort auf!“, brüllen Nico und ich fast gleichzeitig. Der Schatzmeister erkundigt sich höflich bei der Bereiterin, ob sie wohl in einer halben Stunde weitermachen könne? Die
Stimme der Frau überschlägt sich: „Los, raus hier!“ – „Einen Teufel werde ich tun“, rufe ich zurück. „Dir ist schon klar, dass das, was du da machst, lebensgefährlich für dein Pferd ist?“ – „Geht doch bitte einfach raus“, ertönt die schon fast weinerliche Antwort. – „Der hat mir fast die Nase gebrochen.“ – „Atme tief durch und höre jetzt bitte auf!“
Ich drehe mich um und sage zum Schatzmeister: „Was für ein schöner Zufall, dass unser nächstes Heft das Thema ‚Angst und Aggression beim Menschen‘ haben wird.“ Der Schatzmeister lächelt unglücklich, während die beiden Frauen fassungslos sind und immer wieder sagen: „Das geht gar nicht!“ Das Pferd wird weiter gescheucht, während ich mein Handy aus der Tasche ziehe und rufe: „Dann kann ich das ja jetzt filmen.“ Woraufhin die Bereiterin sagt: „Wieso, du kannst doch mit mir reden!“ Was ein Handy doch so alles bewirken kann. Nico wendet sich mit bestimmender Stimme an den Schatzmeister: „Entweder du beendest das jetzt oder ich mache das!“ Tatsächlich – der Schatzmeister geht in die Halle, spricht mit der jungen Frau. Der Hengst bleibt auf meiner Bandenhöhe stehen, die Bereiterin sattelt ihn ab und entschnürt ihn. Endlich vorbei! Der Hengst steht schwer pumpend in der Halle, bevor er frei lostrabt und seiner Spannung Luft macht.
Die Reaktionen
Die beiden Frauen sind fassungslos, ringen nach Luft, reden auf den Schatzmeister ein. Der wehrt ab: Ja, das sei natürlich nicht in Ordnung, aber die junge Frau sei in einer Ausnahmesituation gewesen. Später hören wir, dass die Vereinsmitglieder aufgebracht sind. Unklar ist, ob das an dem Vorfall selbst liegt oder an dem Umstand, dass Nico und ich Zeuginnen waren.
Einige Tage später schicke ich eine Mail an den Vorstand des Vereins und bitte um eine Stellungnahme. Ob es Standard sei, dass hinter verschlossenen Türen gearbeitet wird? Nein, natürlich nicht, lautet die Antwort: „Wir verstehen uns als Stall der offenen Türen.“ Zudem distanziere sich der Vorstand von „jeder Form der Hyperflexion (Rollkur) und anderen Methoden, die dem Tierschutz zuwiderlaufen.“ Und weiter heißt es: „Für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden wir künftig gezielt nach Angeboten zur Deeskalation suchen.“ Dies sei ein Einzelfall gewesen: „Der Vorstand hat nach dem Vorfall zeitnah ein persönliches Gespräch mit der betreffenden Person geführt. Darin haben wir sie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ihr Verhalten unangemessen und falsch war. Sie hat Einsicht gezeigt und ihr Verhalten bedauert. Die betreffende Person befand sich bei dem beobachteten Vorfall in einer extremen Ausnahmesituation. Wir werden sie und ihren Umgang mit Pferden weiterhin beobachten.“ Nach jüngsten Informationen ist die Bereiterin dort nicht mehr beschäftigt.
Der Blick mit Abstand
Als Beobachterinnen und Kritikerinnen hatten Nico und ich im Verhältnis zu beispielsweise einem Reitschüler oder Einsteller einen leichten Stand: Wir mussten nicht darauf Rücksicht nehmen, ob wir es uns mit irgendjemandem verscherzen oder gar Stallverbot bekommen.
Warum das Eingreifen bei tierschutzrelevanten Fällen dennoch schwierig ist
Wer also nicht gerade in dieser komfortablen Position ist, wie es Nico und ich waren, steht gleich vor einer ganzen Reihe von Problemen, die das Eingreifen in einer solchen Situation nicht einfach machen. Sei es sozialer Druck oder schlicht die Angst davor, aus dem Stall geworfen zu werden. Bevor es so weit kommt, gibt es eine Reihe von Tipps von unseren Experten, die Sie anwenden können.
Das rät die Psychologin Johanna Constantini, wenn Sie Pferdemissbrauch beobachten:
Johanna Constantini lebt und arbeitet in Innsbruck, Österreich, und setzt zunächst auf Kommunikation: „Ich würde den Stallbesitzer ansprechen, schließlich trägt er die Verantwortung dafür, was in seinem Stall geschieht.“ Doch die klinische und Sportpsychologin weiß auch: „Oftmals ist solch ein Wegsehen seit Jahren im Stall etabliert. Dennoch lohnt sich der Versuch, unter den anderen Einstellern Solidarität zu organisieren und sie mit ins Boot zu holen: Je mehr Personen sich also gegen diesen Missbrauch aussprechen, desto besser – und desto höher die Chance, dass sie Gehör finden werden.“ So könnten Stallkollegen angesprochen werden, ob sie tierschutzwidriges Verhalten – etwa durch den Bereiter – schon öfter beobachtet haben und ob sie bereit sind, gemeinsam zum Stallbesitzer zu gehen und das Verhalten anzuprangern. Vielleicht gibt es auch ausgehängte Stallregeln, auf die sich berufen werden kann. Oder aber Regeln, die gemeinsam entwickelt werden: „Es macht für den Stallbetreiber wirtschaftlich einen erheblichen Unterschied, ob ein Einsteller mit Stallwechsel droht oder ob es gleich vier oder fünf sind.“
Bleibt auch das ohne Wirkung und sind die Strukturen im Stall so verkrustet, dass dem Tierschutz kein Wert beigemessen wird, steht eine Entscheidung an: „Ich muss mir die Frage stellen, was dieser geduldete Pferdemissbrauch mit mir macht. Wie steht es um mein individuelles Wohlbefinden, wenn ich in so einen Stall komme und da werden die Pferde geschlagen, getreten oder straff ausgebunden und im Kreis gejagt. Möchte
ich das für mich? Möchte ich in dieser Atmosphäre dann selbst reiten? Und möchte ich vor allen Dingen, dass mein Pferd in solch einer Atmosphäre lebt? Fühle ich mich wohl in dieser Atmosphäre? Muss ich immer wieder wegschauen und gehe gar mit einem schlechten Gefühl nach Hause?“
Wer diese Fragen für sich ehrlich beantwortet, wird dann wohl um einen Stallwechsel nicht herumkommen.
Das rät der Jurist André Hascher, wenn Sie Pferdemissbrauch beobachten:
André Hascher ist Rechtsanwalt und Mitbegründer der Initiative „R-haltenswert“, die sich für einen pferdegerechten Reitsport einsetzt (s. auch Standpunkt S. 130). In seiner täglichen Arbeit ist er öfter mit Fällen konfrontiert, in denen tierschutzwidriges Verhalten gegenüber Pferden eine große Rolle spielt: „In manchen Ställen – je nachdem, wie die Haltung des Stallbetreibers zum Tierschutz ausfällt – kann es für einzelne Mieter tatsächlich gefährlich werden, sich für den Tierschutz einzusetzen. Teilweise haben Betroffene sogar den Stall verlassen müssen. Ob das rechtlich haltbar ist, steht auf einem anderen Blatt. Für all jene, die dennoch etwas verändern möchten – was richtig und wichtig ist –, gibt es immer die Möglichkeit, sich an die Polizei oder das zuständige Veterinäramt zu wenden. Bei der Polizei kann eine Strafanzeige wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz gestellt werden. Dies ist sowohl bei der örtlichen Polizeidienststelle als auch online möglich. Gerade Letzteres senkt für viele die Hemmschwelle – ein sinnvoller Weg.
Zudem besteht die Möglichkeit, sich anonym an das zuständige Veterinäramt der jeweiligen Gemeinde zu wenden. Auch dort werden Hinweise dankbar entgegengenommen und in der Regel zügig überprüft.“
Wichtig ist, dass die Anzeigenerstatter die Vorwürfe, also den Sachverhalt, klar schildern können. „Das kann jede grobe oder unsachgemäße Behandlung des Pferdes sein, eben auch beim Reiten. Dies umfasst ebenfalls mangelhafte Haltungsbedingungen, wie im Mist stehen oder nicht genügend Wasser zur Verfügung zu haben.“ Wer den Missbrauch gut und ausführlich dokumentieren kann, ist dabei deutlich im Vorteil: „Das muss selbstverständlich detailliert beschrieben werden, weil der Vorwurf eindeutig formuliert sein muss. In solchen Fällen hilft es ungemein, wenn die Bereitschaft besteht, eine offizielle Zeugenaussage zu machen – selbst wenn das bedeutet, nicht länger anonym zu bleiben. Möglicherweise existiert auch eine Foto- oder Videoaufnahme, die zusätzlich als Beweismittel dienen kann.“ Beim Erstellen von Foto- oder Videomaterial gilt es jedoch einige Dinge zu beachten, denn auch hier spielt der Datenschutz eine Rolle. Unproblematisch ist es, wenn die Aufnahmen in der Öffentlichkeit – wie beispielsweise bei einem Turnier – gemacht werden.
Heikler kann es sein, wenn die Aufnahmen hinter den geschlossenen Türen einer Reitanlage entstanden sind, sagt der Rechtsanwalt: „Hier können die Persönlichkeitsrechte greifen. Dennoch bleibt es immer eine Prüfung des Einzelfalles. In Situationen, wo keine andere Abhilfe mehr möglich ist, um die Tiere zu schützen, können die Persönlichkeitsrechte des Täters hinter denen der anderen Schutzgüter zurücktreten.“
Wer seine Anzeige anonym einreicht, wird weiter nichts darüber erfahren, was sich in dem Fall getan hat. Anders sieht es aus, wenn die Meldung nicht anonym war: „Die Anzeige wird an die zuständige Polizeidienststelle weitergeleitet werden und die Beamten werden eine Zeugenaussage vom Anzeigeerstatter anfordern“, beschreibt André Hascher. „Bei pflichtgemäßem Amtshandeln ist damit zu rechnen, dass der Beschuldigte in
kürzester Zeit Besuch bekommt und dass geprüft wird, ob diese Anschuldigungen rechtmäßig sind oder nicht. Natürlich wird der Verdächtige nicht immer gerade auf frischer Tat ertappt, aber es gibt natürlich auch Möglichkeiten, an den Pferden zu erkennen, ob sie sachgemäß oder unsachgemäß behandelt werden.“
Aus eigener Erfahrung weiß er, dass solche Fälle gar nicht so selten sind: „Die Pferde haben aufgestochene Seiten, dauerhafte Striemen am Körper. Massiv zu eng verschnallte Reithalfter hinterlassen ebenfalls dauerhafte Spuren: Diese Pferde entwickeln im Nasenbereich Überbeine. Das bedeutet: Auch nach der Tat können noch Spuren gesichert werden.“ Wird ein Strafverfahren in Gang gebracht, kann es zwar bis zu dessen Abschluss Jahre dauern. Dennoch kann den Tieren schnell geholfen werden, weiß André Hascher: „Allein das behördliche Einschreiten, das intensive Befragen und die Mitteilung der drohenden Konsequenzen ist oft ein wesentliches Mittel, um auch Prävention gegenüber weiteren Taten zu bewirken und die Pferde zu schützen.“
Das rät die Justiziarin der FN, Dr. Kristin Mütze, wenn Sie Pferdemissbrauch beobachten:
Wer sich nicht gleich an Polizei oder Veterinäramt wenden möchte, dem steht ein weiterer Weg offen: der Gang zur Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN). Erste Ansprechpartnerin ist die Justiziarin Dr. Kristin Mütze: „Unsere Empfehlung ist es, zunächst mit dem Stallbetreiber zu sprechen. Aber natürlich kann sich jemand auch direkt an uns wenden. Theoretisch geht das auch anonym, aber dann haben wir natürlich wenig in
der Hand. Besser und hilfreicher ist es, wenn wir die Zeugen auch benennen können und dass sie uns auch für das Verfahren zur Verfügung stehen.“ Hier gilt auch, was schon bei Polizei und Veterinäramt angesprochen wurde: Je besser die Vorfälle dokumentiert sind, desto gezielter kann dagegen vorgegangen werden. Denn: „Wir haben als FN keine Ermittlungsbefugnisse, können also beispielsweise nicht einfach in einen Stall gehen und selber recherchieren.“ Eine Einschränkung gibt es aber, so die Juristin: „Die Tatverdächtigen müssen FN-angebunden sein, also etwa eine Turnierreiterlizenz haben oder einem der FN angeschlossenen
Reitverein angehören. Ist das nicht der Fall, unterliegen sie auch nicht der Vereinsgerichtsbarkeit der FN, und wir haben als Verband keine Handlungsmöglichkeiten.“ Dennoch könne die FN beratend zur Seite stehen und etwa empfehlen, sich in einem solchen Fall direkt an das Veterinäramt zu wenden.
Liegt der Justiziarin ein möglicher Verstoß gegen das Tierschutzgesetz vor, leitet sie diesen an die Abteilung Ausbildung und an die Abteilung Tiermedizin weiter: „Die Kollegen überprüfen fachlich, ob hier tatsächlich ein Verstoß vorliegt.“ Ist das der Fall, wird der Beschuldigte angeschrieben und angehört, sodass er sich zu den Vorwürfen äußern kann.
Im nächsten Schritt wird der Vorgang an die Disziplinarkommission weitergeleitet – ein von der FN unabhängiges Gremium mit Anwälten und Tierärzten. „Schließlich können wir als Verband nicht selbst einen verbandsinternen Fall entscheiden, deshalb setzen wir auf die unabhängige Disziplinarkommission.“ Während bei überregionalen Vorfällen – wie etwa bei Bundeschampionaten – die FN-Zentrale in Warendorf zuständig ist, kümmern sich bei regionalen Tierschutzfällen die jeweiligen Landesverbände. Auch sie arbeiten mit unabhängigen Disziplinarkommissionen und Schiedsgerichten zusammen. „Wenn nötig, übernehmen wir aber auch Fälle von der Landesebene, wenn die Kapazitäten nicht da sind oder der Fall sehr große Bedeutung hat“, so Dr. Kristin Mütze.
In Warendorf landen im Schnitt jährlich 20 Fälle: „Das sind allerdings nicht nur Tierschutzsachen, sondern betreffen beispielsweise auch Doping.“ (cls)
Mehr über Johanna Constantini erfahren Sie unter https://www.constantini.at
André Hascher finden Sie unter https://www.raewellmann.de/andre-hascher.html
Bei der Polizei kann online Anzeige erstattet werden: https://portal.onlinewache.polizei.de/de/
Informationen über Dr. Kristin Mütze erhalten Sie auf der Seite der FN: https://pferd-aktuell.de
Wer einen Vorfall bei der FN melden möchte, kann dies per E-Mail erledigen an: vetmed@fn-dokr.de
Auf den Seiten der FN finden sich auch weitere Hinweise, was im Fall eines tierschutzrelevanten Vorgangs unternommen werden kann: https://www.pferd-aktuell.de/tierschutz
Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft „Angst und Aggression beim Menschen!“