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Von Kartoffelgräben und purer Statik: Die Balance des Pferdes

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft 3/2008 „Balance und Harmonie“, welches in unserem Sammelband 2008 enthalten ist.
Das perfekte Gleichgewicht – die absolute Balance: Daran arbeiten Reiter und Pferd ein Leben lang. Balance ist keine statische Angelegenheit: Sie kann sich verändern, die Fähigkeit zum Balancieren wird besser, und an manchen anderen Tagen wundert man sich wiederum, warum nichts funktioniert. Dabei gibt es einige Alarmsignale, die jedem Reiter zeigen: Mein Pferd ist noch nicht ausbalanciert.
„Man kann es hören“, sagt Anja Beran, klassische Dressurausbilderin im bayrischen Bidingen: „Wenn Pferde nicht ausbalanciert sind, laufen sie laut“, fasst sie knapp zusammen, woran auch ungeübte Reiter erkennen, wann ihr Pferd sich noch nicht im Gleichgewicht befindet. Es seien dann keine elastischen, schwingenden Bewegungen vorhanden, sondern die Pferde würden „auf den Gelenken laufen, sie benutzen ihre Muskulatur nicht genug“. Auch untertouriges Durch-die-Bahn-Schleichen gehört dazu: „Die Pferde heben ihre Beine nicht richtig“, erklärt Anja Beran, „sie hinterlassen im Hallenboden regelrechte Kartoffelgräben.“ Deutliches Zeichen für ein unausbalanciertes Pferd ist es auch, wenn der Vierbeiner sich vom Reiter förmlich tragen lässt: „Das Pferd stützt sich aufs Gebiss und der Reiter hat viel zu viel Gewicht in der Hand.“ Pferde, die beim Reiten an der Bande kleben, haben ebenfalls ein Gleichgewichtsproblem, weiß Anja Beran. „Wenn ein Pferd in dieser Phase sein Gewicht extrem auf die äußere Schulter verlagert, hilft es, das Pferd nach außen zu stellen: Dann muss es die innere Schulter mehr belasten, um sich auszubalancieren.“ Daneben spielt die Halshaltung eine Rolle: „Wird der Kopf zu hoch oder zu tief getragen, fehlt ebenfalls die Fähigkeit zum Ausbalancieren.“

Ohne Reiter in absoluter Balance... Foto: www.slawik.com
Ohne Reiter in absoluter Balance… Foto: www.slawik.com

Jan Nivelle, Dressurausbilder des Landesleistungsstützpunktes des Pferdesportverbandes Rheinland, betont noch einen anderen Aspekt. Wichtig für das Verständnis der Balance, die ein Pferd unterm Reiter zeigen muss, ist für ihn, dass hier genau unterschieden wird: „Jedes Pferd hat zwei Gleichgewichtsrichtungen: Einmal von hinten nach vorn, das sogenannte Längsachsengleichgewicht (horizontales Gleichgewicht). Und einmal das Biegungsgleichgewicht (vertikales oder laterales Gleichgewicht), wo besonders das Links-Rechts-Ausbalancieren eine Rolle spielt.“ Was sich im ersten Moment kompliziert anhört, ist einfach erklärt: „Generell muss jeder Reiter eine Balance zwischen Masse und Bewegung seines Pferdes herstellen“, so Nivelle. „Die horizontale Balance bezieht sich auf das Reiten von geraden Linien. Hier spielt das Verhältnis von Vorder- und Hinterhand eine Rolle. Fällt das Pferd auf die Vorhand und nimmt hinten keine Last auf? Oder ist schon ein gewisser Grad von Versammlung da? Die laterale Balance hingegen spielt dann eine Rolle, wenn es um gebogene Linien geht.“ Der Reiter müsse dann genau beobachten und erfühlen, ob das innere Hinterbein tatsächlich in die Spur des inneren Vorderbeines fuße. „Hier spielt die natürliche Schiefe des Pferdes eine große Rolle.“ Denn so ohne Weiteres könne das Pferd diese Schiefe nicht ablegen, hier bedürfe es einer gezielten Gymnastizierung. „Wenn die natürliche Schiefe erkannt wurde und das Geraderichten damit leichter fällt, dann ist schon ein weiterer großer Schritt zur Balance von Reiter und Pferd getan.“
Denn die Balance ist aus Jan Nivelles Sicht einer der wesentlichen Punkte beim Reiten: „Deshalb erwarte ich hier auch von der Skala der Ausbildung der FN konkrete Anhaltspunkte.“ Doch diese ließen sich so nicht auf den ersten Blick erkennen. Dazu müsse man die Inhalte der Skala schon genauer unter die Lupe nehmen. Die ersten drei Punkte der Skala, nämlich Takt, Losgelassenheit und Anlehnung, setzen das Pferd in das horizontale Gleichgewicht, so Jan Nivelle. Dazu gehört ganz praktisch: „Das Pferd muss vor dem Bein und leicht in der Hand sein. Genauer: Das Pferd muss den treibenden Hilfen folgen und darf sich nicht gegen das Gebiss wehren.“ Wenn dann noch der Schwung dazu komme, würde das horizontale Gleichgewicht noch einmal deutlich verbessert. Das vertikale Gleichgewicht wird durch folgende Punkte der Skala der Ausbildung erarbeitet, erklärt der Ausbilder: „Takt, Losgelassenheit, Anlehnung und Geraderichtung.“ Beide Gleichgewichtsrichtungen könne man sich gut als einen Bogen vorstellen, so Nivelle: „Das horizontale Gleichgewicht entspricht einem Bogen von hinten nach vorne. Das vertikale Gleichgewicht entspricht dem Bogen der Linie, auf dem man reitet.“ Für den Reiter heißt das: „Das Pferd muss mit seiner Rippe dem Schenkel nachgeben, damit es sich der Linie anpassen kann. Deshalb ist das Schulterherein solch eine Schlüssellektion – weil hier beide Bögen gefördert werden. Wenn das Pferd diese beiden Gleichgewichtsbögen beherrscht, dann sind die Voraussetzungen für die Versammlung geschaffen.“ (cls)

Skala der Ausbildung
Die nachfolgenden Punkte dürfen nicht isoliert von einander betrachtet werden:
Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Geraderichtung, Versammlung
Wissenswertes zur Skala der Ausbildung, ihre Bedeutung und Entwicklung, finden Sie in unserem Heft „Klassisch contra Classique“
Weitere Informationen finden Sie in den Richtlinien für Reiten und Fahren, Band 1, FN-Verlag.

 

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft 3/2008 „Balance und Harmonie“, welches in unserem Sammelband 2008 enthalten ist. Titel Sammelband 2008