Ob das Schulterherein zum Kleinen Pferde-Einmaleins gehört oder eher eine Übung für „Gymnasiasten“ ist, mag umstritten sein. In einem Punkt herrscht aber Einigkeit: Das übergeordnete Ziel ist, das Pferd gesund zu erhalten. Somit sollte an erster Stelle jeder Diskussion die Frage stehen, ab wann ein junges Pferd überhaupt körperlich in der Lage ist, das Schulterherein auszuführen, ohne dabei Schaden zu nehmen.
„Entscheidend ist nicht das Alter des Pferdes, sondern sein Trainingszustand“, macht Barbara Welter-Böller deutlich. Körperlich sei das junge Pferd schon zu Beginn seiner reiterlichen Ausbildung in der Lage, sich in einem gewissen Maß zu biegen. „Das ist ja schon beim Reiten auf dem Zirkel notwendig“, fügt die Ost-eopathin und Physiotherapeutin für Pferde und Hunde hinzu, die darüber hinaus Human-Physiotherapeutin ist. Die meisten Wachstumsfugen seien mit etwa 36 Monaten geschlossen. Das Kreuzbein sei allerdings erst mit vier bis fünf Jahren vollständig verwachsen. Bis zu diesem Zeitpunkt solle das Pferd nicht in stärkerer Versammlung geritten werden. Den Belastungen erster Schultervor- oder Schulterhereinübungen sei das Skelett eines jüngeren Pferdes aber durchaus schon gewachsen, wenn es der Reiter nicht übertreibe. Verschiedene andere Faktoren könnten jedoch schnell zu Überlastungen führen. Insofern müsse das Schulterherein gerade beim jungen Pferd mit Bedacht angegangen werden.
Sie beschreibt zunächst, wie sich das Schulterherein auf den Pferdekörper auswirkt: „Wenn das Pferd im Schulterherein auf drei Hufschlaglinien geht, habe ich immer eine fast geradegerichtete Diagonale, die sich auf einer Linie bewegt. Das ist auf der linken Hand das linke Hinterbein und das rechte Vorderbein. Auf dieser Diagonalen wird die Balance trainiert. Auf der verstärkten
Diagonalen, also dem rechten Hinterbein und dem linken Vorderbein, die jeweils auf einer Hufschlaglinie laufen, wird dagegen die Rotationsstabilität in Schulter und Knie trainiert. Das ist an sich eine gute Sache, wenn ich das Pferd gleichmäßig trainiere.“ Dieser Trainingseffekt auf die diagonalen Gliedmaßen trete vor allem auf, wenn die Übung im Trab ausgeführt werde. „Im Schritt hat das Pferd immer mindestens zwei Beine am Boden und die Bewegungen sind langsamer. Das gibt ihm eine relativ große Unterstützungsfläche. Die diagonale Trabbewegung mit nur kurzem Auffußen und der Schwebephase bietet dagegen kaum Unterstützungsfläche. Das bedeutet, dass die Rotationsbewegungen von Knie und Schulter im Moment des Auffußens durch die Muskulatur stabilisiert werden müssen.“
Bevor das Schulterherein mit einem jungen Pferd in Angriff genommen werden kann, sollten einige grundlegende Kriterien erfüllt sein, macht Barbara Welter-Böller deutlich, die in ihrer „Fachschule für Osteopathische Pferdetherapie“ Pferdeosteopathen ausbildet. „Das Pferd muss auf gebogenen Linien, also auch in den Ecken, in korrekter Längsbiegung, in allen drei Grundgangarten taktrein, losgelassen und in Balance gehen. Vor allem die Balance zu finden sei für junge Pferde schwierig. Im Trab fiele es ihnen deutlich leichter als im Schritt, weshalb sie rät, mit dem Schulterherein grundsätzlich im Trab zu beginnen. „Die Schwerkraftunsicherheit ist beim jungen Pferd noch sehr ausgeprägt. Im Schritt macht sich das besonders bemerkbar, da es sich durch den ständigen Wechsel von Zwei- und Dreibeinstützen immer wieder neu ausbalancieren muss. Ist das Pferd dabei nicht ausreichend in Balance, endet das Schulterherein im Schritt meistens in einem argen Gequetsche. Im Trab fällt es dem Pferd deutlich leichter. Durch die kurze Frequenz des Auffußens und den abwechselnden diagonalen Zweibeinstützen findet es besser sein Gleichgewicht.“ Fehlende Balance zeige sich darin, dass das Pferd in der Lektion wegstürme, plötzlich den Hals lang mache, weil es ihn als Balancierstange brauche, und gegen die innere Hand gehe oder sich heraushebe. „Diese Symptome werden fälschlicherweise leider oft für Unwillen gehalten.“
Da sich die Hinterhand im Schulterherein geradeaus auf dem Hufschlag bewegt und keine Seitwärtsbewegung ausführt, sieht sie eine erhöhte Belastung eher für die Vor- als für die Hinterhand. Eine wichtige Rolle spiele dabei der Rumpftrageapparat des Pferdes. „Wir müssen uns vor Augen halten, dass der Rumpf beim Pferd nur durch Muskulatur mit den Vorderbeinen verbunden ist und dadurch zwischen ihnen federt. Ist diese Verbindung nicht stabil, fehlt die Federung und das Fesselgelenk muss die gesamte Bewegung abfangen. Der Fesselträger kann das zwar eine Zeitlang kompensieren, aber irgendwann treten als Folge Fesselgelenksproblematiken auf.“ Die Stabilität des Rumpftrageapparates sei deshalb schon die Voraussetzung dafür, überhaupt einen Reiter tragen zu können, betont die Osteopathin. Er müsse daher bereits vom Boden aus trainiert werden, wie beispielsweise unausgebunden an der Longe.“ Das Schulterherein könne sich außerdem in besonderer Weise auf die (In-)Stabilität des Rumpftrageapparates auswirken: „Hat das Pferd dabei zu viel Abstellung im Hals, wird der Rumpftrageapparat auf der Innenseite außer Funktion gesetzt. Das scheint mir der wichtigste verschleißende Faktor im Schulterherein zu sein“, so die Einschätzung von Barbara Welter-Böller. Sie führt aus, wie dieser Effekt zustande kommt: „Der Muskulus serratus ventralis als wichtigste Verbindung zwischen Vordergliedmaße und Rumpf, insbesondere sein Halsteil, verliert durch die Annäherung von Muskelansatz und -ursprung seine Spannung und damit seine puffernde Wirkung auf das innere Vorderbein.“ Zu erkennen sei dies daran, dass der Fesselkopf nicht mehr federn könne und das Pferd sicht- und hörbar mit dem Bein auf den Boden stampfe. Wo „zu viel“ Abstellung beginne, sei ganz individuell zu beurteilen. „Der Reiter muss herausfinden, wie viel Längsbiegung das Pferd verträgt, ohne auf der Vorhand instabil zu werden. Danach richtet sich auch, wie lange er die Lektion reiten kann. Zu Beginn können das auch nur drei Tritte sein. Sobald der Reiter oder Trainer merkt, dass das Pferd mit dem inneren Vorderbein zu stampfen beginnt, ist es im Verbrauch und braucht eine Pause.“ Insgesamt sei darauf zu achten, die Reprisen kurz zu halten. Weitere Probleme könnten sich ergeben, erklärt die Ausbilderin, wenn bei zu viel Abstellung auch noch die begrenzende Wirkung des äußeren Zügels fehle. „Dann treten zusätzlich Fliehkräfte auf, die die äußere Schulter belasten.“
Aufgrund des versammelnden Effekts der Übung würden die großen Gelenke der Hinterhand und die an der Hankenbeugung beteiligten Beugesehnen etwas stärker belastet, erklärt Barbara Welter-Böller. An der Vorhand würde vor allem der Fesselträger, aber auch tiefe und oberflächliche Beugesehne durch das seitliche Fußen der Vorderbeine geringfügig mehr beansprucht. Insgesamt sieht sie aber die Belastung von Sehnen und Bändern im Schulterherein nicht als problematisch an, wenn das Pferd keine Verletzungen habe und auf seinen Trainingszustand Rücksicht genommen werde.
Zu Muskelverspannungen könne es kommen, wenn der Reiter das junge Pferd im Schulterherein nicht in seinem Tempo gehen lasse. „Jedes Pferd hat seinen eigenen Takt und seinen eigenen Rhythmus. Beides richtet sich nach der Durchtrittigkeit des Fesselgelenks. Beginne ich nun damit, Schulterherein zu reiten, hat das Pferd genug damit zu tun, seine Balance zu finden und die sogenannte Teilkopplungsfähigkeit zu erlernen. Damit ist die Fähigkeit gemeint, einzelne Körperteile in verschiedene Richtungen zu bewegen. Sie ist im Schulterherein erforderlich, da das Pferd sich dabei nicht, wie von Natur aus, in Richtung seines Kopfes, sondern entgegengesetzt bewegen muss.“ Zwinge der Reiter dem Pferd noch dazu ein schnelleres oder langsameres Tempo auf, seien Störungen vorprogrammiert.
Grundsätzlich, betont Barbara Welter-Böller, sollte das Schulterherein zunächst nur in der Gebrauchshaltung geritten werden, denn: „Im Vorwärts-Abwärts bewegt sich das Pferd mit längerem Hals. Dadurch haben wir wieder eine vermehrte Fliehkraft auf der äußeren Schulter.“ Dieser Effekt könne zwar im Training auch gezielt genutzt werden, um die Schulter zu stabilisieren. Das sei aber erst sinnvoll, wenn das Pferd schon ausreichend trainiert und ausbalanciert sei. Zu guter Letzt sei noch erwähnt: Eine ausreichend lange Aufwärmphase sollte dem Schulterherein, ganz unabhängig vom Alter oder Trainingszustand des Pferdes, immer vorausgehen. (Karin Ottemann)