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Dr. Josef Kastner: Die Tücken der kleinen Helferlein

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft „Der Reitersitz: Das Praxis-Heft“

Der Bewegungswissenschaftler und Biomechaniker Dr. Josef Kastner hat mit seinen Partnerinnen Imke Schlömer und Marieke Hübner „Kastner Motion“ gegründet. Die drei setzen „Reiter in Bewegung“, denn gut sitzen bedeutet, sich richtig zu bewegen und nicht statisch zu verharren. Josef Kastner gefällt schon der Begriff „Reitersitz“ nicht – und alles was ihn betoniert.

Es muss viel getan werden, damit es harmonisch aussieht: Balance, Kraft, dreidimensionale Beweglichkeit und voneinander unabhängige, gezielte und möglichst feine Bewegungen aller Körperteile sind die Voraussetzungen für einen harmonischen Tanz im Viereck. Das zu lernen dauert lange und es nur auf dem Pferd zu üben, führt meist ebenfalls nicht zu der erstrebten Eleganz. Da schlackern die Beine, der Kopf nickt, die Arme rudern, das Becken hüpft und der Traum von der Traversale verabschiedet sich schon auf dem Zirkel mit der einknickenden Hüfte. Da ist es nur zu verständlich, dass der ambitionierte Reiter versucht, Abkürzungen auf dem mühsamen Weg zum guten Reiter zu nehmen. Die Liste der zur Verfügung stehenden Helferlein ist lang und wird immer länger: Zu Sätteln mit voluminösen Pauschen, die Hüfte und Bein in die richtige Lage bringen sollen, gesellen sich seit einigen Jahren Reithosen mit flächendeckenden, klebenden Silikon-Applikationen. Offene Reiterhände können sich schon seit jeher an Zügelstegen festhalten – die moderne Variante sind Gummierungen. Allerlei Riemen und Gummis unter den Reitjacken schnüren die Schreibtisch-gebeugten Schultern nach hinten. Und wer seine Beine auf dem Turnier so gar nicht zur Ruhe bekommt, kann sich mit Haftpasten die Reitstiefel ans Pferdefell kleben. Theoretisch lässt sich also ein guter Sitz im Reitsporthandel zusammenkaufen. In der Praxis sind vermeintliche Abkürzungen aber leider häufig Sackgassen.

Pauschen über Pauschen
Bei den Sätteln fängt es an. „Sitzprothesen“ nennt Josef Kastner Sättel mit Pauschen und extra tiefem Sitz, die ihre Reiter in bewegungsloser vermeintlicher Perfektion auf dem Pferd fixieren. Um Missverständnissen vorzubeugen: Pauschen an den richtigen Stellen und in den richtigen Situationen haben durchaus ihre Berechtigung. Jenseits des Dressurvierecks und dem Anspruch, das Pferd zu einem athletischen Tänzer auszubilden, geben Kniepauschen den nötigen Halt im Gelände, am Sprung oder in der Reitausbildung. Josef Kastner beispielsweise arbeitet viel mit körperlich eingeschränkten Reitern und die richtige Pausche an der richtigen Stelle hilft. „Pauschen sind Fluch und Segen“, sagt er. „Ich werde fest in einer bestimmten Stellung fixiert und kann darin vielleicht sogar eine gute Grundhaltung einnehmen, ohne mich aktiv darum bemühen zu müssen. Der Fluch ist, dass ich diese fixe Grundhaltung aber auch nicht verlassen kann.“ Das Verlassen der Position ist jedoch das Geheimnis feiner Einwirkung. „Nichts ist starr auf dem Pferd. Allein der statische Begriff ‚Sitz‘ ist irreführend. Um ruhig auf dem Pferd auszusehen, muss ich mich ständig mit dem Pferd bewegen und darf in dieser Beweglichkeit nicht eingeschränkt sein.“ Der Schlüssel für den ruhigen – also maximal beweglichen – Sitz liegt in der Lendenwirbelsäule und in den Hüftgelenken. In einem Sattel mit massiven Pauschen, der den Reiter mit langem Bein auf dem Sattelblatt einklemmt, ist die Hüfte als zentrales Gelenk für das Mitschwingen des Beckens beim Vorschwingen blockiert. Auch wird das Becken von hohem Vorder- und Hinterzwiesel des Sattels in einer leichten Hohlkreuz-Position fixiert. Das sieht aufrecht aus und vermittelt das Bild des eleganten, stolzen Dressursitzes. Der Haken: „Das Becken bleibt immer in dieser leichten Hohlkreuzstellung. Um die Bewegungen des Pferdes zu kompensieren – wir sprechen noch nicht von Einwirkung – muss das Becken die Rollbewegung des Pferderückens mitmachen. Das kann es aber nicht, wenn die Hüfte durch die zu gestreckten Beine fixiert ist und der Sattel keine Bewegung in den Hüftgelenken zulässt.“ Die Folge ist auf Dauer schmerzhaft und verschleißend, denn nun muss automatisch die Lendenwirbelsäule des Reiters einspringen, um die Bewegungen des Pferdes aufzufangen. Und die ist nicht als Stoßdämpfer ausgelegt.

Einen ähnlichen Effekt haben Sättel nach barockem oder iberischem Vorbild, die Hohlsättel. Dort fixiert zwar keine Pausche das Bein, aber – je nach Modell – ein regelrechter „Sitzkorb“, wie Josef Kastner ihn nennt, mit hohem Sattelkranz und Vorderzwiesel klemmt das Becken in der Sitzfläche ein. „In diesen Sätteln sitzen die Reiter stark im Hohlkreuz mit sehr gestrecktem Bein. Das hat ähnliche Auswirkungen wie eine moderne Dressursattel-Sitzprothese“, sagt er. Um zu verstehen, dass diese Sättel dennoch in den Köpfen mit eleganter und leichter Reiterei verknüpft sind, lohnt sich ein Blick auf die Reitkultur der Zeit oder der Region. Klassisch iberische – oder barocke – Pferde haben traditionell eine andere Bewegungsdynamik als moderne mitteleuropäische Sportpferde. „Die Bewegungen dieser Pferde sind aufwärts und nicht vorwärts orientiert. Die Schrittweite bestimmt aber die Dynamik, die ich im Sattel bewältigen muss“, so Josef Kastner. „Diese Sättel müssen im Kontext betrachtet werden. Sie bieten viel Sicherheit im Stierkampf und in der Arbeitsreiterei. Schnell nach links, abstoppen, rückwärtsrichten, nach vorn galoppieren … Da ist es schon praktisch, wenn der Sattel so viel Halt bietet.“

Eingehen vor Einwirken
Wer sich mit seinem Pferd jedoch jenseits dieser Spezialaufgaben bewegt und sowohl die Versammlung als auch das flotte Vorwärts in erweitertem Rahmen möchte, braucht unter dem Reiterpo kein Sitzkissen, sondern einen Sattel, der dem Becken den Raum gibt, sich maximal aufzustellen, maximal abzukippen und dazwischen weich zu rollen. „Es gibt diesen schönen Satz“, sagt der Bewegungsexperte, „Eingehen kommt vor Einwirken.“ Da Sitzprothesen bereits das Eingehen auf die Pferdebewegung verhindern, habe ein Reiter in einem fixierenden Sattel gar nicht erst die Möglichkeit, funktional einzuwirken. Josef Kastner geht sogar noch weiter: „Wir gehen davon aus, dass der Sattel dem Pferd passt. Dann überträgt der Rücken die Bewegung des Pferdes auf den Sattel und der gibt mir meine Bewegung vor. Ich muss nun wiederum in der Lage sein, dieser Bewegung zu folgen. Schwinge ich nicht mit, komme ich vor oder hinter die Bewegung und gebe damit automatisch permanent Paraden.“ Ein Reiten am Sitz sei so unmöglich, betont er, und für Tempovariationen bleibe nur noch der Zügelanzug. Natürlich lernten die Pferde sehr schnell, sich darauf einzustellen. Vor allem moderne Warmblüter verzeihen nach Josef Kastners Erfahrung diese Form der Reiterei. „Aber versuch das mal mit einem Lipizzaner zu machen“, grummelt der Wiener. „Da bist Du nach einer Runde weg von ihm.“

Das tolerante, verzeihende Pferd mache das bis zu einem gewissen Grad mit, trage dann jedoch die Konsequenzen. Es entstehen Verletzungen: Die Folge seien Fesselträgerschäden, Sehnenüberlastungen, Rückenschmerzen. „Dann kommen die Magnetfelddecken und Tierärzte und alles nur, weil der Sattel nicht zulässt, dass das Becken schwingen kann.“

Fast schon eine Kleinigkeit sind da die meist unästhetischen Nebenwirkungen der Pauschen und Polster: Wenn das Becken den Schwung der Pferdebewegung nicht in einer Rollbewegung abfangen kann, sucht sich die Bewegung einen anderen Weg – denn der Schwung ist nun einmal da. Sind die Rumpfmuskeln des Reiters sehr gut ausgeprägt, können sie gemeinsam mit der Lendenwirbelsäule die Bewegung abfangen. Sind sie jedoch nicht stark genug, bleiben zwei Richtungen: Entweder setzt sich die Aufwärtsbewegung nach oben fort, dann nickt der Reiter unschön, rhythmisch mit dem Kopf. „Allerdings hat nicht jeder Reiter mit Kopfnicken automatisch ein festgestelltes Becken“, schränkt der Experte ein. „Bei vielen Reitern beobachte ich, dass sie noch der sogenannten Primitivbewegung folgen und den Oberkörper und Kopf nicht unabhängig vom Becken bewegen können. Das natürliche Einrollen und Aufrichten. Aber das ist noch eine andere Baustelle.“

Oder die Bewegung setzt sich nach unten fort und Reiter mit fixiertem Becken können die Beine nicht ruhig am Pferd halten. Auf dieses Übel hat der Reitsportmarkt allerdings eine Antwort: Haftpasten. Klebrige Masse aus der Dose wird dann an die Innenseite der Reitstiefel geschmiert und soll die Waden am Pferdebauch fixieren. Damit wird dem Reiter allerdings noch mehr Einwirkung genommen – eine schnelle Veränderung der Position der Beine ist mit angeklebten Stiefeln nicht mehr möglich. Selbst wenn der Reiter es mit der Feinmotorik nicht so genau nehmen sollte: Allein eine einfache Galopphilfe wird mit Haftpaste bereits zu einem Projekt.
„Solche Sättel limitieren damit im Prinzip alles, was den Unterschied zwischen Passagier und Reiter ausmacht“, fasst Josef Kastner zusammen. „Ich bin ja nicht einmal in der Lage, meine Hüfte ein Stück nach vorn oder hinten zu schieben. Ehrliches Dressurreiten ist damit nicht möglich.“

Reithose mit Grip. Foto: www.slawik.com

Pattex am Po
Ein noch recht junges Phänomen in den Reitställen sind Reithosen, die flächendeckend mit Silikonmustern bedruckt sind. „Haftung ist auch wieder Fluch und Segen“, sagt Josef Kastner. „Eine gewisse Reibung ist gut. Ist die Reibung aber so groß, dass der Reiter seinen Sitz nicht mehr jederzeit korrigieren und die notwendigen Bewegungen ausführen kann, ist das natürlich schlecht.“ Die Ursache hinter dem Wunsch, sich am Sattel mit Silikon anzukleben, sieht er in fehlender Balance. „Longenstunden sind leider nicht mehr modern. Früher hieß es: 50 Stunden an der Longe, damit sich ein balancierter Sitz ausbilden kann. Die Zeit nimmt sich niemand mehr. Und wenn es an der Balance fehlt, muss ich mich eben ankleben.“ Was Reiter, die das Bedürfnis nach Klebstoff hätten, eigentlich bräuchten, sei ein geschultes Gleichgewicht, um sich in der Mitte des Sitzes zu stabilisieren. Auch starke Rumpfmuskeln – insbesondere die seitlichen Bauchmuskeln – helfen, das Gleichgewicht zu halten. Josef Kastner plädiert zum Üben für das Reiten ohne Bügel. Auch wenn es diverse Nachteile mit sich bringt: es lehrt den Reiter, nicht seitlich vom Pferd zu rutschen. „Reiter, die das gelernt haben, brauchen kein Silikon mehr. Der Schlüssel ist immer das freie Schwingen des Beckens und die Möglichkeit, meine Sitzposition jederzeit zu ändern. Silikonkleber behindert nicht das Schwingen, aber es nimmt dem Reiter die Möglichkeit, seine Sitzposition durch kleine Bewegungen jederzeit an die Bewegung des Pferdes anzupassen und feine Sitzhilfen zu geben.“

Eine gewisse Haftung sei natürlich schon angenehm und auch eine Frage der Sicherheit. Zwar würden Kinder ohne Ganzbesatz-Hosen und auf glatten, flachen Sätteln genau diese Balance entwickeln – sonst rutschten sie ständig vom Pferd. Aber selbst in der Hofreitschule – da kommt der Wiener noch einmal durch – würden die Bereiter weißes Leder am Gesäß tragen: „Und die können wirklich sitzen.“ (Dr. Jo Schilling)

Mehr über Dr. Josef Kastner und das Team Kastner Motion erfahren Sie
im Internet unter www.kastnermotion.com

Lesetipp:
Josef Kastner, Marieke Hübner, Imke Schlömer: „Setz Dich in Bewegung – Funktionelles Bewegungstraining für Reiter mit Übungen für einen
besseren Sitz“, Eigenverlag, 2015

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft „Der Reitersitz: Das Praxis-Heft“