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Buchbesprechung: Die neuen Richtlinien, Band 1

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Es hat Jahre gedauert, doch schließlich sind sie nun erschienen: die überarbeiteten Richtlinien Band 1 der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN). Wir haben das Werk unter die Lupe genommen und geschaut, welche Veränderungen es gibt.

Wer die alten Richtlinen Band 1 aus dem Regal gezogen hat, der war entweder extrem leidensbereit oder aber musste die Theorie für eine Prüfung lernen. Freiwillig wird wohl kaum jemand das Regelwerk zur Hand genommen haben. Denn dessen Formulierungen waren so verstaubt, dass selbst der geneigte Leser des Werkes kurz kontrollierte, ob sich die Staubschicht nicht schon im eigenen Bücherregal verteilt hatte.
Das sagt – zugegebenermaßen – erst einmal nichts über die Qualität der Inhalte aus. Die waren und sind gut. Nur: Es zeigt, wie unwichtig den Verantwortlichen bei der FN (nicht im FN-Verlag) die Verdaulichkeit dieses Standardwerkes war. Natürlich erklärt sich das ein wenig aus der Geschichte der Richtlinien, die sich aus den militärischen Heeresdienstvorschriften entwickelt haben und damit in erster Linie für Offiziere, also eine kleine
elitäre Gruppe, gedacht waren. Diesen Duktus haben die Richtlinien bis zur jetzigen Neuveröffentlichung tatsächlich beibehalten. Doch das lässt sich natürlich auch positiv formulieren: Die FN hat nur knapp 60 Jahre gebraucht, um eine Version zu verfassen, die öffentlichkeitstauglich ist: Denn das – und das ist die gute Nachricht – sind die neuen Richtlinien tatsächlich. Sprachlich und vom Layout her ist das Regelwerk nun in der Neuzeit angekommen.

Doch der Reihe nach: Richtlinien
Bisher immer ein wenig schwammig geisterte der Begriff „Klassische Reitlehre“ durch die Literatur, den im Zweifelsfall viele für sich in Anspruch nehmen und sich darauf berufen. Mit den neuen Richtlinien haben die Autoren nun erstmals versucht, diesem Begriff „Leben einzuhauchen“, indem sie eine Definition einführen: Die klassische Reitlehre sei „ein lebendiges und modernes Ausbildungsprinzip, das auf den Grundprinzipien alter Meister
aufbaut, aber auch neue, ergänzende, dem Wohle des Pferdes dienende und für das Ausbildungssystem zweckdienliche Erkenntnisse übernimmt“. Statt wie bisher in den hinteren Teil des Buches ist die Skala der Ausbildung nun an den Anfang gerückt. In Pyramidenform werden die Begriffe Takt, Losgelassenheit, Anlehnung,Schwung, Geraderichtung und Versammlung präsentiert. Diese sollen mit zunehmender Durchlässigkeit einhergehen und erstmalig sind alle untrennbar mit dem Begriff „Gleichgewicht“ verbunden.

Wurde in den alten Richtlinien dem Kapitel „Grundlagen: Eigenschaften des Pferdes“ lediglich eine Buchseite eingeräumt, widmen die Autoren in der Neuauflage dem Thema fünfmal so viel Platz. Begriffe wie „Rangordnung“ und „Körpersprache“ finden damit erstmals ihren Platz in den Richtlinien. Damit wird der Entwicklung Rechnung getragen, dass das „Horsemanship“, welches früher für viele Reiter, die von klein auf mit Pferden zusammen waren, eine Selbstverständlichkeit war, heute eben keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Viel ausführlicher als bisher wurde auch das Kapitel „Die Ausrüstung von Reiter und Pferd“ behandelt. Die Fans des gebisslosen Reitens dürften sich freuen, dass auch diese Variante nun Eingang in die Richtlinien gefunden hat. Es fehlt auch nicht der Hinweis, dass gebisslose Zäumungen nicht automatisch sanfter und pferdefreundlicher sind als
Zäumungen mit Gebiss. Allerdings wird auch festgehalten: „Da Pferde erfahrungsgemäß nur ungern einen dauerhaften Druck auf den Nasenrücken akzeptieren, erreicht man in der Regel nur schwer eine gleichbleibende Zügelverbindung. Die Entwicklung eines positiven Spannungsbogens ist kaum möglich. Deshalb wird mit gebisslosen Zäumungen auf eine etwas andere Weise geritten als mit den üblichen Zäumungen mit Gebiss.“ Wobei
die Autoren diese „etwas andere Weise“ völlig offen halten. So mancher Sattelhersteller dürfte wenig Freude an den neuen Richtlinien haben, denn hier wird jetzt explizit ausgesprochen, was viele wissen, aber einige immer noch nicht wahrhaben wollen: „Eine betonte Sitztiefe in Verbindung mit großen, die Oberschenkel des Reiters fixierenden Pauschen, ist eine Fehlentwicklung im Sattelbau. Reiter fragen danach, weil ihnen das Gefühl der Sicherheit vermittelt wird. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, weil die Losgelassenheit und die Einwirkung der Reiter stark beeinträchtigt werden.“ Die Hilfszügel finden wie in der alten und neuen Ausgabe ebenfalls Erwähnung. Beiden gemeinsam ist, dass explizit darauf hingewiesen wird, dass Hilfszügel nur vorübergehend eingesetzt werden sollen und dass es das Ziel sein muss, ohne sie auszukommen. Werden in den alten Richtlinien die Schlaufzügel noch kurz erwähnt, ist das in den neuen nicht mehr der Fall. Zudem wird geraten, keine Ausbinder mit Gummiringen zu nutzen, da durch die elastische Wirkung „auch ein Gegenzug“ entstehe, der in der Folge zu einem Unterhals führen könne. Erstmals findet sich in den Richtlinien neben der Ausbildungsskala für das Pferd auch eine Ausbildungsskala für den Reiter. Gerade dem Sitz wird nun endlich der Platz eingeräumt, den er auch verdient. Der unsäglichen Mode des überstreckten Beines mit langen Bügeln im Dressursitz wird eine Absage erteilt, denn: „Der Steigbügel darf nur so lang verschnallt sein, dass der Reiter auch die Bewegung des Aufstehens mit tiefem Absatz und lockerem Fußgelenk vollziehen kann.“ Dem Reiter wird außerdem empfohlen: „Der Oberkörper ist unverkrampft aufgerichtet und je nach Situation nahe an der Senkrechten, aber niemals dahinter.“

Was für den Oberkörper des Reiters gilt, gilt ebenfalls für die Pferdenase. Sie hat vor der Senkrechten zu sein. Das Bekenntnis dazu ist freilich nicht neu, sondern war auch in allen anderen Ausgaben der Richtlinien nachzulesen. Als eine Ursache bei Pferden, deren Nase hinter der Senkrechten ist, die sich verkriechen und damit nicht vor den Hilfen sind, wird das fehlerhafte Reiten von halben Paraden ausgemacht, welche „nicht richtig mit vorherrschenden treibenden Hilfen von hinten nach vorn“ ausgeführt werden. Der Tipp, wie das behoben werden kann, ist fett und rot gedruckt: „Häufiges Zügel-aus-der-Handkauen-Lassen und Zügel-wieder-aufnehmen fördern das Vertrauen des Pferdes und das Geschick des Reiters.“ Ein ganz wesentlicher neuer Punkt innerhalb der Richtlinien ist, dass jetzt nicht mehr nur das „Ideal“ dargestellt wird, sondern auch mögliche Fehler beschrieben werden. Dazu gibt es dann auch tatsächlich hilfreiche Tipps – und das in fast allen Kapiteln –, wie die Fehler beseitigt werden können. Der Band 1 ist damit tatsächlich ein Buch geworden, welches nicht nur Richtlinien vorgibt, sondern ist auch ein Ratgeber, in dem es sich lohnt, öfter zu lesen.

Unser Fazit:
Auch für Reiter anderer Reitweisen oder gar erklärte FN-Gegner lohnt es sich, die neuen Richtlinien intensiv zu studieren. Denn in ihnen sind viele Selbstverständlichkeiten gut erklärt und nachvollziehbar dargestellt. Selbstverständlichkeiten, die heute mancher „Guru“ für viel Geld als „neue Weisheit“ verkauft. Wie will die FN allerdings das Problem des sehr guten theoretischen Anspruchs und den oft unschönen Reitbildern der Wirklichkeit in den Griff bekommen? Die Antwort auf diese Frage bleibt – noch – offen. Hoffentlich braucht die FN für diese Antwort nicht noch einmal gut 60 Jahre … (März 2013, Claudia Sanders)

 

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