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Biomechanik: Longieren

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Belastend für Knochen und Gelenke

Es ist ein fest verankertes Wissen in den Köpfen von Reitern und Ausbildern: zu viel Longieren ist schädlich, im Kreis laufen ist für Pferde auf Dauer ungesund und häufiger Handwechsel ist unerlässlich und sinnvoll, um die Beine des Pferdes zu schonen. Wohl jeder Pferdebesitzer hat sein Pferd schon einem Tierarzt auf hartem Boden und in einem engen Zirkel vorgetrabt, um eine vorhandene Lahmheit deutlicher sichtbar zu machen, also hat eine enge Kreislinie zumindest deutliches Belastungspotenzial.
Um die Belastung der Gelenke zu verstehen, ist ein wenig Anatomiekenntnis nötig. Das Gewicht des Pferdes ist bereits ohne Reiter ungleichmäßig auf Vor- und Hinterhand verteilt: Im Stand trägt die Vorhand etwa 65 Prozent des Körpergewichts. Jedes Mal, wenn ein Pferd einen Huf aufsetzt, entstehen so genannte Stoßkräfte. Diese Stoßkräfte müssen vom Pferdebein absorbiert werden. Dabei spielen nicht nur die Gelenke selbst, sondern auch deren Winkelung eine Rolle: Gewinkelte Gelenke wie das Schulter- und Ellbogengelenk an den Vorderbeinen oder Hüftgelenk und Knie an den Hinterbeinen und in besonderem Maß das Fesselgelenk wirken beim Auffußen wie Stoßdämpfer. Je steiler der Winkel von Schulter und Fessel, desto schlechter ist die Federwirkung. Das Schulterblatt des Pferdes ist nur durch Muskeln mit dem Rumpf des Pferdes verbunden. „Ein solide bemuskeltes Pferd kann über die Rumpfmuskulatur einiges dieser Stoßbelastungen abfangen“, erläutert die Warendorfer Pferdesporttherapeutin Karin Link.Auch der Aufbau der Gelenke trägt zur Stoßdämpfung bei: Das Vorderfußwurzelgelenk beispielsweise besteht aus zwei Knochenreihen, wodurch sich die Zahl der stoßdämpfenden Knorpelschichten in diesem Gelenk auf drei erhöht.

 

Aufgrund physikalischer Gesetze der Kraftableitung wird ein Teil der Stoßkräfte, die über den Huf auf das Pferdebein einwirken, auf den Röhrbeinknochen übertragen. Vereinfacht kann man sich das vorstellen wie eine Billardkugel, die über Bande gespielt wird: Die Kraft dringt von unten in das Bein ein, folgt der Achse Hufbein–Fesselbein und wird dann, abhängig von der Winkelung des Fesselgelenks, Richtung Vorderseite Röhrbein abgelenkt. Dies geschieht bei jedem Schritt. Das Röhrbein ist der stärkste Knochen im Skelett des Pferdes und der Pferdekörper reagiert auf diese Belastung, indem er die Stärke des Knochens an dieser Stelle verstärkt. Diese Umbauvorgänge im Knochen finden besonders intensiv bei jungen Pferden statt, die angeritten werden und deren Knochen noch nicht ausgereift sind. Sind die Belastungen für den Knochen zu intensiv und folgen schneller nacheinander, als der Körper sich anpassen kann, kommt es zu winzigen Schäden und Entzündungen im Knochen: Dieser reagiert mit vermehrter Kallusbildung, um das entzündete Gebiet schnellstmöglich zu sichern, und es bilden sich Überbeine. Forschungen aus Australien (Davies & Merritt 2004) haben ergeben, dass diese auf das Röhrbein wirkenden Kräfte unterschiedlich auf das innere und äußere Bein einwirken, wenn das Pferd auf einem Zirkel läuft. Während das innere Röhrbein in seiner Gesamtheit stärker belastet wird, sind am äußeren Röhrbein deutlich stärkere Belastungen an der Vorderseite des Knochens messbar.

 

Interessanterweise sagt diese Studie auch aus, dass die Belastung der Vorderseite des äußeren Röhrbeins größer wird, wenn der Zirkel größer wird. Vermutlich liegt das daran, dass das äußere Bein auf einer Zirkellinie die Fliehkraft mit abfangen muss, während das innere Beinpaar mehr Körpergewicht zu tragen hat. Bewegt sich ein Pferd nämlich auf einer gebogenen Linie, verändert es seine im Idealfall symmetrisch-gleichmäßige Körperhaltung: Um die nach außen wirkenden Fliehkräfte auszugleichen, lehnt sich das Pferd automatisch nach innen. Auf einer Volte mit sechs Metern Durchmesser belegten amerikanische Forscher (Clayton et al. 2006) im Trab einen Neigungswinkel des Pferdekörpers nach innen um 15 Grad. Dadurch wird das innere Beinpaar auf einer Kreislinie permanent mit mehr Gewicht belastet als das äußere. Besonders deutlich ist das bei Rennpferden sichtbar, die sich wortwörtlich „in die Kurven legen“. Das Hufgelenk, das im Inneren des Hufes eingebettet ist und aus Hufbein, Kronbein und Strahlbein gebildet wird, ist dabei den stärksten Belastungen ausgesetzt.

Bei amerikanischen Rennpferden, die in der Regel nur auf der linken Hand gearbeitet werden, treten die meisten Hufbeinfrakturen am linken, also dem inneren Vorderbein auf. Zusätzlich bleibt das innere Bein in einer Wendung etwas länger am Boden als das jeweilige äußere, das dafür einen weiteren Weg zurücklegen muss. Je enger der Kreis ist, desto größer ist dieser zeitliche Unterschied, wie eine weitere Studie aus dem Jahr 2005 (Chateau et al. 2005) belegt. Und noch ein weiteres Belastungsmoment tritt in dem Augenblick auf, in dem das innere Bein Bodenkontakt hat: Durch die Gewichtsverlagerung in die Wendung oder Zirkellinie hinein entsteht in den unteren Gelenken des Pferdebeins eine Rotationsbewegung, und das bei jedem einzelnen Schritt. Sie können das sehr gut in Ihren eigenen Knien spüren, wenn Sie langsam und bewusst einen Kreis gehen. „Dieser Rotationsstress wirkt bei den Vorderbeinen besonders auf Huf- und Fesselgelenke, bei den Hinterbeinen auf Knie und Sprunggelenke“, erläutert Karin Link. „Bei tiefem Boden ist die Belastung der Knie des Pferdes noch höher, weil das Bein sich dann bereits von der Hüfte aus dreht.“ Zusätzlich zu der Belastung der Knochen und Gelenke durch die physikalischen Stoßkräfte kommt es auf einer Kreislinie durch die Gelenksrotationen also auch zu Belastungen der Bänder und Sehnen, die die einzelnen Gelenke stützen und miteinander verbinden. Je enger die Wendung, desto stärker die Rotation und desto mehr Spannung kommt auf Bänder und Sehnen. Aus genau diesem Grund zeigen Pferde, die auf einem engen Zirkel dem Tierarzt vorgetrabt werden, deutlichere Lahmheiten.

 

Es ist also offensichtlich, dass bereits ein vom Exterieur her perfekt gebautes Pferd, das in perfekter Selbsthaltung auf perfektem Boden longiert wird, eine höhere Belastung der Bänder und Gelenke kompensieren muss, als ein Pferd, das geradeaus gearbeitet wird. Hat ein Pferd aber körperliche Einschränkungen wie Stellungsfehler, Hufprobleme oder schwache Muskulatur, kann sich diese Belastung noch deutlich verstärken. Auch die Bodenverhältnisse wirken sich unmittelbar auf die Belastung der Pferdebeine aus: Ist der Boden zu hart, sind die Stoßkräfte erheblich stärker und damit auch die Knochenbelastung; ist der Boden zu weich oder hat er zu viel Grip, geht das zu Lasten der Sehnen und Bänder. (Maren Jonasdofsky)

 

Studien:
Davies HM and Merritt JS. (2004) Surface strains around the midshaft of the third metacarpal bone during turning. Equine Veterinary Journal, 36(8): 689-692.
Clayton, HM and Sha, DH (2006) Head and body centre of mass movement in horses trotting on a circular path. Equine Exercise Physiology (7), Equine Vet J suppl 36, 462-467.
Chateau H, Degueurce C and Denoix J-M. (2005) Three-dimensional kinematics of the equine distal forelimb: Effects of a sharp turn at the walk. Equine Veterinary Journal, 37(1): 12-18.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserem Heft „Longieren“. Das Einzelheft ist leider vergriffen, dafür aber in unserem Sammelband 2010 enthalten.

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