Wohl jeder ernsthafte Leser hat Bücher, die er immer wieder zur Hand nimmt und die ihn manchmal das ganze Leben lang begleiten. Im besten
Fall zeigen sie bei jedem Wieder-Lesen neue Facetten und Aspekte auf und überraschen ihn immer aufs Neue. Ohne sie wäre die einsame
Insel ein öder Ort. Wer solche Bücher besitzt, erzählt anderen davon, legt sie ihnen ans Herz und verleiht sie sogar – weil er das, was sie ihm
selbst geben, mit anderen teilen möchte. Eben Lieblingsbücher!
„Wenn Pferde für dich durchs Feuer gehen“ ist für mich ein solches Lieblingsbuch, eines der „ungewöhnlichsten“ Pferdebücher, die ich kenne.
Denn anders als bei vielen anderen Werken, die sich mit der Ausbildung junger Pferde befassen, liegt hier kein Schwerpunkt auf der Arbeit unter
dem Sattel – alle Phasen, die das Pferd in den ersten vier Jahren seiner Ausbildung durchläuft, sind gleich wichtig und sollen mit der gleichen Sorgfalt
begleitet werden. Dem Buch liegt das von dem Schweizer SFRV-Reitlehrer Helmut Piller entwickelte Konzept des Horseathlon zugrunde, welches
er und seine Co-Autorin, die Pferdeverhaltenstherapeutin Christa Friedli Müller, als „ganzheitliches und nachhaltiges Ausbildungskonzept für Pferde
und Menschen“ bezeichnen. Das trifft es gut, denn um ein junges Pferd zu einem vertrauensvollen Partner zu erziehen, der tatsächlich für seinen
Menschen durchs Feuer geht, muss dieser Mensch bereit sein, sich selbst in Disziplin und Geduld zu üben.
Am Beispiel von drei jungen Freiberger Hengsten, die Helmut Piller als Absetzer erworben hat, wird der Ausbildungsweg nach dem Horseathlon-
Konzept vom Fohlen bis zum Vierjährigen beschrieben. Unterteilt ist er in vier Zeitabschnitte: von 0,5 bis 1,5 Jahre, von 1,5 bis 2,5 Jahre, von 2,5 bis
3,5 Jahre und von 3,5 bis 4,5 Jahre. Für jeden dieser Zeitabschnitte stellen die Autoren Übungen vor, die mit dem jungen Pferd absolviert werden
können, ohne es dabei zu überfordern. Die Basis dafür sind zwölf Grundübungen, an die das Jungpferd Schritt für Schritt herangeführt wird und
die in den ersten beiden Jahren sozusagen „Kindergarten“ und „Grundschule“ darstellen. Im ersten Abschnitt lernen die Jungpferde neben dem Fohlen-
ABC (Halfter anlegen, Hufe aufnehmen und Anbinden) zum Beispiel auch erste Führübungen in verschiedenen Führpositionen, Spaziergänge
und Gelassenheitstraining kennen. Im zweiten Abschnitt kommen bereits das Mitführen als Handpferd, erste Trailübungen an der Hand und spiele-
rische Zirkuslektionen hinzu. Pferde von 2,5 bis 3,5 Jahren machen zusätzlich Bekanntschaft mit der Longenarbeit sowie dreijährig mit dem ersten Aufsitzen und der Arbeit an
der Hand mit Kappzaum. Im Alter von 3,5 bis 4,5 Jahren absolvieren sie die Trail-Übungen dann auch unter dem Sattel, werden an der Hand am kurzen Zügel im Schritt und
im Trab auf Kappzaum und Trense gearbeitet. Ab vierjährig werden sie auf ihren ersten Horseathlon-Wettbewerb unter dem Sattel vorbereitet. Dieser stellt den Abschluss der
Grundausbildung und gleichzeitig auch die – buchstäbliche – „Feuerprobe“ des Vertrauens des jungen Pferdes zu seinem Ausbilder dar: denn der gerittene Horseathlon beinhaltet
auch das Durchreiten von Feuerhindernissen. Der Titel des Buches ist damit Programm!
Tatsächlich geht Jungpferdeausbildung kaum vielseitiger. Übersichtlichkeit und Klarheit der Ausführung sind dabei Trumpf: Für jede der vorgestellten Übungen wird ein Ziel definiert,
der Weg dorthin genau erläutert und die Zahl der voraussichtlich benötigten Trainingseinheiten festgelegt. Letzteres variiert natürlich, je nachdem, wie schnell das jeweilige
Pferd lernt. Damit steht dem Ausbilder ein äußerst detaillierter „Fahrplan“ zur Verfügung, der sehr einfach Schritt für Schritt verfolgt werden kann und dabei immer den
Grundsatz „vom Leichten zum Schweren“ beherzigt. Die verschiedenen Ausbildungsbereiche wie Führen, Gelassenheitstraining, Trailübungen, Zirkuslektionen, Arbeit an der
Hand, Gewöhnung an Sattel und Trense, Verladetraining und Reiten werden Schwierigkeitsgraden von 1 bis 10 zugeordnet. Diese sind am Ende jedes Kapitels tabellarisch und
sehr übersichtlich zusammengefasst. Listen der benötigten Ausrüstungsgegenstände runden das Ganze ab.
Doch auf die Praxis allein kommt es den Autoren nicht an: Die essenzielle Botschaft des Buches ist, dass ein Pferd nur dann zum uneingeschränkt vertrauenden Partner werden
kann, wenn von Anfang an auf Zwang und Druck verzichtet wird. Das Instrument dazu ist positive Verstärkung. Wer in seinem Pferd einen Partner haben will, muss es auch als
einen Partner sehen und es mit Liebe und Respekt behandeln. Andernfalls werden das Vertrauen und die Bereitschaft des Pferdes zur freiwilligen und freudigen Mitarbeit zerstört.
Und dieser Partner Pferd hat eben auch noch andere Bedürfnisse, die wir als Menschen erfüllen müssen, wenn wir möchten, dass er ein gutes Leben bei und mit uns hat.
Außer dem eigentlichen Ausbildungsteil gibt es deshalb Kapitel zur pferdegerechten Haltung, zu Wahl und Kauf des eigenen Pferdes, Pflege und Fütterung, Zahnpflege, Psychologie
und den Grundlagen des Lernens. Kleine „Geschichten am Rande“ über Helmut Pillers Erlebnisse mit Pferden und Beobachtungen, aus denen er etwas gelernt hat, lockern
den Text nicht nur auf, sondern regen dazu an, einen Moment innezuhalten und über das Gelesene nachzudenken.
Dass die intensive Beschäftigung mit jungen Pferd nach dem Horseathlon-Konzept bereits direkt nach dem Absetzen beginnt, mag manchen zunächst verwundern – besteht
doch hierzulande die Aufzucht von Pferden oft darin, sie nach dem Absetzen auf die Weide zu stellen und für die nächsten drei Jahre nicht mehr anzuschauen. Für viele Men-
schen beginnt die intensive Beschäftigung mit ihrem Pferd daher erst dann, wenn es in sein Leben als Reitpferd startet. Das ist sehr schade, entgeht ihnen doch so die Möglichkeit,
bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt eine vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Pferd aufzubauen. Die tägliche Beschäftigung mit dem Jungpferd, seine Gewöhnung
an unterschiedlichste Gegenstände, Geräusche und Alltagssituationen, verschafft dem Menschen einen ungeheuren Vertrauensvorteil, noch ehe er überhaupt in den Sattel
steigt. Viele der Probleme, wie sie oft bei im „Profistall“ ruckzuck verkaufsfertig gemachten jungen Pferden entstehen, treten darum gar nicht erst auf.
Nun ließe sich einwenden, dass viele Reiter nicht die nötigen zeitlichen, räumlichen und finanziellen Ressourcen oder das erforderliche Ausbildungsgeschick haben, um ihr Pferd
als Fohlen zu kaufen, es in ihrer unmittelbaren Umgebung aufzuziehen, täglich Zeit mit ihm zu verbringen und es selbst auszubilden. Das Schöne an dem Buch ist aber, dass es
so viele Bereiche der Beschäftigung mit Pferden aufgreift und jeder mit jedem Pferd an jedem Punkt einsteigen kann. Sowohl Einsteigern als auch Fortgeschrittenen und Könnern
kann das Buch Leitfaden, Anregung, Nachschlagewerk und Inspiration sein. Wer aber die Möglichkeit hat, sein Pferd aufwachsen zu sehen, sich täglich mit ihm zu beschäftigen
und dieses Buch dabei als Grundlage zu nutzen, sollte das machen. Er wird es sicher nicht bereuen.
Beim Pferd nichts als gegeben anzunehmen, auf seine Stärken und Schwächen individuell einzugehen, es gemäß seinen Begabungen zu fördern und sich dabei alle Zeit der
Welt zu lassen, ist nicht allein das Grundprinzip des Horseathlon-Konzepts, sondern jeder pferdegerechten Reitlehre. Die meisten anderen Ausbildungsbücher haben daher denselben
Anspruch. Wie sich das aber konkret in die Praxis umsetzen lässt, habe ich bisher in so komprimierter, gut erklärter und vor allem nachvollzieh- und nachmachbarer Form
in kaum einem anderen Buch gefunden. Für mich hat dieses von der Liebe zum und dem Respekt gegenüber dem Pferd getragene und dabei wahrhaft „praktische“ und gut bebilderte
Buch einen Platz in jeder Reiterbibliothek verdient. (Cora von Hindte-Mieske)
Helmut Piller, Christa Friedli Müller: „Wenn Pferde für dich durchs Feuer gehen. Vom glücklichen Fohlen zum motivierten Reitpferd“, Olms 2016, 363 Seiten, 34,80 EUR