Home » Rollkur, Hyperflexion, LDR und #NoSchlaufzügel » Rollkur und Co. aus wissenschaftlicher Sicht

Rollkur und Co. aus wissenschaftlicher Sicht

Bild eines Springpfferdes, das mit extremer Rollkur geritten wird
Foto: Julia Rau

Ganz sachlich und nüchtern sollte die wissenschaftliche Bewertung von extremen Kopf-Hals-Positionen des Pferdes eigentlich möglich sein. Doch entsprechende Untersuchungen sind noch dünn gesät und ihre Ergebnisse umstritten.

Im Reitsport wurden schon oft bestimmte Haltungen oder Lektionen bei Pferden angewendet, um so den Trainingseffekt, die Leistungsbereitschaft oder den Bewegungsablauf des Pferdes positiv zu beeinflussen. Dabei ist es schwierig, diese Methoden ganz sachlich zu beurteilen, denn es gibt keine allgemein gültigen und messbaren Kriterien. Ausbilder und Reiter bewerten die (Aus-)Wirkungen hauptsächlich aufgrund ihres Gefühls und daran, ob sie im Sport Erfolg haben. Das hat aus wissenschaftlicher Sicht aber natürlich keine Relevanz.

 

Versuchsaufbau
Um die Auswirkungen von Kopf-Hals-Positionen auf Körper, Psyche und Bewegungsabläufe zu erforschen, sind die meisten bisher veröffentlichten wissenschaftlichen Versuche ähnlich aufgebaut. Die Pferde werden in sechs verschiedenen Positionen gemessen, beobachtet und getestet: • die natürliche Haltung, die das Pferd unbeeinflusst annimmt, • die Haltung „am Zügel“, Hals in mittlerer Höhe, mit der Nase leicht VOR der Senkrechten, • die Haltung wie zuvor, jedoch Nase leicht HINTER der Senkrechten, • die Haltung mit deutlich abgesenktem Hals und Nase weit hinter der Senkrechten – landläufig als „Rollkur“ bezeichnet, • die hohe Haltung mit deutlich aufgerichtetem Hals und Nase deutlich vor der Senkrechten sowie • die Dehnungshaltung, Nase vor der Senkrechten auf Buggelenkshöhe – vorwärts-abwärts.
In den Versuchen werden die Pferde im Stand oder auf einem Laufband im Schritt oder Trab, mit oder ohne Reiter beobachtet und gemessen. Für die Auswertung werden die Messergebnisse in den verschiedenen Kopf-Hals-Positionen verglichen.

Kritik an den Versuchsaufbauten
Diese Art der wissenschaftlichen Untersuchung ist durchaus angreifbar. Kritiker melden beispielsweise deshalb Zweifel an, weil das Trabtempo in den Kopf-Hals-Positionen verschieden angesetzt wird und die Pferde durch das Tempo des Laufbandes in eine Geschwindigkeit hineingezwungen werden. So könnten die Tiere die aus den veränderten Kopf-Hals-Positionen resultierenden Tempounterschiede nicht zeigen. Weiter wird angezweifelt, ob Pferde besonders in den freien Positionen auf einem Laufband überhaupt Losgelassenheit zeigen können. Auch dass ein Laufband bei den Tests eingesetzt wird, ist umstritten, da es keine Untersuchungen dazu gibt, inwieweit die Bewegungen des Pferdes durch das Laufband verändert werden. Die Ergebnisse der Tests sind zudem beeinflusst durch die so genannte Vorprägung. Für die meisten Untersuchungen wurden fortgeschritten ausgebildete Pferde ausgewählt, die in der Mehrzahl schon über Monate oder Jahre hinweg überzäumt geritten wurden. Manche von ihnen hatten schon Probleme damit, sich in der Dehnungshaltung nach vorne zu dehnen und dabei nicht auseinanderzufallen. Damit bleibt aber auch offen, ob die Untersuchungsergebnisse nicht ganz anders ausgefallen wären, wenn die Pferde das überzäumte Reiten nicht schon gewöhnt gewesen wären. Generell lässt sich leider festhalten: Die Studien sind aufgrund der kleinen Anzahl getesteter Pferde nicht aussagekräftig genug, um endgültige und allgemein verbindliche Schlüsse zuzulassen.

Reiter vieler Reitweisen nutzen die Rollkur. Foto: www.slawik.com
Reiter vieler Reitweisen nutzen die Rollkur. Foto: www.slawik.com

Ergebnisse
2005 fand eine große, internationale Untersuchung statt, in Kooperation der Universitäten Zürich, Utrecht, Uppsala und mit Professor Heinz Meyer. Mit enormem technischem Aufwand wurden sieben Pferde getestet. Recht eindeutig sind – wie in allen Forschungsarbeiten übereinstimmend – die negativen Auswirkungen der extremen hohen Halsaufrichtung mit offenem Genick auf die Bewegungen des Pferdes. Besonders die Gangart Schritt verändert sich in Bewegungsfluss und Raumgriff zum Negativen um gute 6 %. Bei allen Kopf-Hals-Positionen außer der natürlichen verändert sich der Schritt zum Schlechteren: Bei der Rollkur um 2 %, am Zügel leicht vor der Senkrechten um 4 %, sowie am Zügel leicht hinter der Senkrechten um 3 %. Am unwohlsten sollen sich die Pferde in der extrem hohen Kopf-Hals-Position gefühlt haben. Weiter wurde errechnet, dass Pferde im Trab in freier Haltung auf ihrer Vorhand ungefähr 56 % ihres Gesamtgewichts tragen, mit dem Reiter in den verschiedenen Kopf-Hals-Positionen tragen sie zwischen 58 bis 60 % ihres Gewichts auf der Vorhand. Ein weiteres Ergebnis zeigte, dass in der Rollkurposition die Bewegungsamplitude in der Mitte der Brustwirbelsäule (bei T 10) und in der Lendenwirbelsäule (L 1,3,5) zunahmen. So argumentieren die Befürworter der Trainingsmethode Low-Deep-Round (LDR), dass damit die Dehnung im hinteren Rückenbereich zunehme und das Pferd mehr Vorwärtsschub entwickeln könne. Dem widersprechen allerdings die Kritiker: Die überdehnte Lendenwirbelsäule sei dafür verantwortlich, dass das Hinterbein nicht mehr unter den Schwerpunkt fußen könne. Zudem sei eine höhere Beweglichkeit nicht unbedingt gleichzusetzen mit einem positiven, gymnastizierenden Effekt.
Bei einer weiteren Studie aus Kanada wurden die Pferde auf zwei Zirkeln geritten. Auf dem einen Zirkel wurden sie „aufgerollt“, auf dem anderen vor der Senkrechten geritten. Im Versuch konnten die Pferde nach einer Eingewöhnungszeit schließlich ihren eignen Weg wählen, sich also aussuchen, ob sie lieber auf dem „Rollkur-Zirkel“ oder dem anderen Zirkel laufen wollten. 14 von 15 Pferden haben sich dabei gegen die Rollkur entschieden. Das Ergebnis ist zwar eindeutig – die Verfechter des LDR bezweifeln jedoch nicht ganz zu Unrecht, dass der Reiter tatsächlich das Pferd völlig unbeeinflusst wählen lassen kann.
Zu Jahresbeginn legten die Wissenschaftler des Graf-Lehndorff-Instituts, das dem brandenburgischen Haupt- und Landgestüt Neustadt/Dosse angegliedert ist, ihre Forschungsergebnisse vor. Ein neu entwickeltes, kleines Endoskop macht es möglich, die Atemwege des Pferdes auch in der Bewegung zu kontrollieren. Bisher war das nur im Stand möglich. Die Wissenschaftler haben so die Auswirkungen der Rollkur überprüfen können. Dazu wurden 16 Pferde longiert: erst mit langen Ausbindern, dann mit extrem kurzen, sodass die Pferde in Rollkur-Haltung laufen mussten. Ernüchterndes Fazit: Durch den aufgerollten Hals bleibt den Pferden regelrecht die Luft weg, die Atemwege verengen sich und der Puls steigt an. Durch eine gleichzeitig eingesetzte Wärmebildkamera stellten die Forscher außerdem fest: Die Rollkur-Pferde verspannen sich, die Durchblutung verändert sich und die Pferde drücken den Rücken weg. Insgesamt führe das für die Pferde zu einer „unphysiologischen Belastung, die in keiner Pferdeausbildung Platz haben sollte“, schlussfolgert die Leiterin des Graf-Lehndorff-Instituts, Professor Christine Aurich.

Diplomarbeit zur Rollkur
Die Biologin Kathrin Kienapfel hat ihre Diplomarbeit dem Thema Bewegungsmechanik und Ausdrucksverhalten von Pferden bei verschiedenen Kopf-Hals-Positionen gewidmet. Ihre Ergebnisse: Der Widerrist dehnt sich prinzipiell bei einem tief eingestellten Kopf und verkürzt sich bei einer hohen Kopf-Hals-Stellung. Eine Ausnahme gibt es allerdings: In der Rollkur-Position wird der Widerrist nicht länger. Weitaus eindeutiger sind hingegen die Missfallensäußerungen von Pferden, die „aufgerollt“ werden. Bei Dutzenden Pferden testete Kathrin Kienapfel, sowohl im Stehen als unter dem Reiter, wie sie auf die Rollkur reagierten – wobei all diese Pferde bis dahin nicht in Rollkurposition geritten wurden. Im Stehen zeigten 50 % der Pferde deutliches Missfallen, sobald sie extrem beigezäumt wurden. Unter dem Reiter kam es bei einer Kopfstellung mit der Stirn-Nasen-Linie hinter der Senkrechten achtmal häufiger zu Unmutsbekundungen als bei der Kopfstellung mit der Stirn-Nasen-Linie vor der Senkrechten. Das Reiten mit der Stirn-Nasen-Linie hinter der Senkrechten ist auf den Abreiteplätzen der Turniere allerdings kein Einzelfall mehr, hat die Biologin beobachtet, sondern mit 92,8 % die Regel.

LDR und Stresssymptome
In den bislang durchgeführten Versuchen zeigten die Pferde in der umstrittenen Rollkur-Position keine Stresssymptome. Das stärkt natürlich die Position der LDR-Befürworter. Die Kritiker allerdings verweisen in diesem Zusammenhang auf die „Learned helplessness”, also „erlernte Hilflosigkeit“. Der Begriff wurde Ende der 1960er Jahre von den amerikanischen Psychologen Seligmann und Maier geprägt. Er beschreibt ein Phänomen, das sich sowohl bei Menschen als auch bei Tieren beobachten lässt. Sobald die Hilf- oder Machtlosigkeit zu groß wird und zu lange andauert, wird sich widerstandslos ergeben, Resignation ist die Folge. Auf das Reiten und hier speziell auf LDR übertragen, bedeutet das: Wenn das Pferd nur oft genug erfahren hat, dass es sich nicht aus der Rollkur-Position befreien kann, wird es irgendwann in dieser Haltung bleiben – selbst dann, wenn der Druck der Zügel eben nicht mehr so stark ist und es seine Nase vor nehmen könnte.

Fazit
Jede wissenschaftliche Untersuchung und ihre Ergebnisse werden je nach Position anders interpretiert. LDR-Befürworter bezweifeln teilweise die Wissenschaftlichkeit der jeweiligen Versuchsreihen oder sehen gar Argumente für ihre Position. Die Rollkur-Gegner fühlen sich hingegen durch die Ergebnisse in ihrer Sicht der Dinge bestärkt. Und diese unterschiedlichen Standpunkte werden sich wohl auch durch weitere wissenschaftliche Versuche kaum verändern lassen, weil immer ein gewisser Interpretationsspielraum bleiben wird. Nur in einem sind sich Befürworter und Gegner immerhin einig und selbst LDR-Vertreter Sjef Janssen und Anky van Grunsven weisen darauf hin: Diese Methode, angewendet von weniger erfahrenen Ausbildern und Reitern, ist ein deutliches Risiko für das Wohlbefinden der Pferde. (Sibylle Wiemer)

 

Dies ist eine Leseprobe aus unserem Heft 2/2010 – „Nase vor die Senkrechte“, welches Sie hier bestellen könnenTitelbild Sammelband 2010
Zu diesem Artikel in unserem Heft erreichte uns ein Leserbrief, den wir Ihnen nicht vorenthalten möchten. Absender ist Christian Behrens, 24994 Jardelund:

Ich möchte kurz das Fazit von Frau Sibylle Wiemers in ihrem Artikel beleuchten, beinhaltet es doch für mich das zentrale Dilemma: Da ein Pferd die Auswirkungen des Pferde verachtenden Reitens nicht sofort und unmittelbar mitteilen kann (etwa durch Schreien, oder Hinwerfen), bleiben dem Menschen nur wissenschaftliche Langzeittests und Gutachten, um dessen Schädlichkeit nachzuweisen – und leider gibt es zu jedem Gutachten mindestens ein Gegengutachten.
Die Fokussierung auf Beweisbarkeiten durch die ‚unbestechliche‘ Naturwissenschaft hat ohne Zweifel in der Pferdewelt viel bewegt. Dabei besteht allerdings auch die Gefahr das komplexe Lebewesen Pferd nur noch ‚technisiert‘ zu betrachten.
Ich plädiere daher für einen Paradigmenwechsel in dieser Diskussion.
Die verantwortungsvollen Reiter/innen sollten dem moralisch – ethischen Gefühl wieder einen höheren Stellenwert einräumen. Wenn auch nicht mathematisch messbar, oder eindeutig beweisbar, müsste eigentlich jedem Menschen – und Reiter – dieses Korrektiv von Richtig und Falsch inne wohnen. Was damit gemeint ist, brachte Nuno Oliveira auf den Punkt: Der fühlende Reiter sollte sich nach dem Reiten in den Blick seines Pferdes vertiefen und eine Gewissensprüfung vornehmen.
Um die Unbestechlichkeit des Gefühls zu verdeutlichen möchte ich ein kurzes Beispiel anführen: im Rahmen meines ersten Staatsexamens, habe ich dem Prüfungsausschuss eine kurze Videosequenz einer Grand Prix Dressurreiterin vorgespielt. In diesem Video sieht man die Reiterin auf dem Abreiteplatz, wie sie den Kopf des Pferdes in allen Gangarten mit erheblichem Krafteinsatz ‚einrollt‘. Auf meine Frage an die Prüfer/innen (allesamt Nichtreiter) wie diese Bilder auf sie wirken würden, waren die Reaktionen Betroffenheit und Unverständnis. „Es wirkt auf mich so, als ob das Pferd systematisch erniedrigt wird“, sagte eine Professorin. Die Frage der beweisbaren körperlichen Schädigung des Pferdes war nebensächlich, alleine die Betrachtung der Bilder ließ bei diesen Laien schon den Zweifel an der Richtigkeit dieses Reitens aufkommen.
Zur Zeit scheint es so, dass die Verantwortung für das Reiten auf „Reitexperten und ihre Systeme“ verlagert wird, um dessen Richtigkeit wissenschaftlich untermauern zu lassen.
Reiter/innen sollten sich aber nicht davon abhalten lassen Reitsysteme kritisch zu hinterfragen und Entscheidungen zum wohle des Pferdes zu treffen.
Empathie und Fühlen – Können, sind beim Umgang mit dem Lebewesen Pferd die wichtigsten Kriterien. Meiner Meinung nach besitzt jeder Mensch diese Fähigkeiten, sie werden aber all zu oft aus erfolgsorientierter ‚Betriebsblindheit‘ in den Hintergrund gerückt.

 

Wir freuen uns über Ihre Kommentare, bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir nur solche veröffentlichen, die Ihren vollständigen Namen enthalten, danke.

2 Responses

  1. Nicole Sunder
    | Antworten

    Hallo! Ganz ehrlich ich empfinde es als ein Scherz das man über diese Art des Reitens Studien in Auftrag gibt. Wenn man sich mit der Anatomie sowie mit der Physiologie beschäftigt hat,macht es diese Studien ziemlich unnötig. Bei dieser Art der Kopfhaltung wird durch das abknicken der Luftröhre die Atmung erschwert. Zudem wird das Sichtfeld dermaßen eingeengt, dass es dem Pferd kaum möglich sein kann seine Balance, sprich sein Gleichgewicht ohne enorme Anstrengungen zu halten. Das Auge hat eine nicht geringe Beteiligung am Gleichgewichtssinn. Also ich verstehe all diese Diskussionen nicht und wundere mich ernsthaft darüber. Das es sicherlich eine sehr sichere Art des Reitens ist, darüber brauchen wir nicht streiten, denn man nimmt den Pferd jegliche Chance sich zu widersetzen!!!

  2. Astrid Fielding
    | Antworten

    Ich finde es richtig, dass diese Extrem-Rollkuren wie im Bild zum Artikel maßregelt. ich finde es aber völlig überzogen, dass jedes mal wenn man ein Bild ins Netz stellt die „Anti-Rollkurfraktion“ beleidigend wird und völlig übers Ziel hinausschießt. Dieser „Wahn“ ist meines Erachtens genauso überzogen wie die Anwendung der Rollkur im Extremen! Leider kommen die meisten „unqualifizierten“ Aussagen und Beschimpfungen von irgendwelchen Wald und Wiesen Reiter die sich kaum oben halten können… Etwas mehr Respekt und eine „neutralere“ Sicht auf die Dinge wären angebracht.. insbesondere die Hetzkampanien zum Thema Rollkur. Bilder sind Momentaufnahmen… das kann 2 Minuten schon wieder ganz anders aussehen. Ich finde es nicht verwerflich sein Pferd mal ein paar Minuten „eng“ zu machen, wenn man damit erreicht, dass es nachgibt und man dann 30 weitere Minuten entspanntes reiten hat… Gruss

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert