Die Légèreté ohne Schwung? Gerd Heuschmanns Thesen in der Kritik
In unserer Ausgabe der Dressur-Studien, Ausgabe 1/2008 „Ausbildung nach Plan“, sorgte der Tierarzt Dr. Gerd Heuschmann mit einigen Thesen für reichlich Diskussionsstoff. Pferde, die im Sinne der iberisch-französischen Reitlehre ausgebildet würden, zeigten oftmals keinen Schwung, so der Veterinär. Zudem würden sie mit einem „losen Rücken“ gehen.
Der Begriff des losen Rückens wurde im vergangenen Jahrhundert von Udo Bürger geprägt. Er bezeichnete den losen Rücken allerdings als unerwünscht. Anders dagegen Gerd Heuschmann: Der lose Rücken schade dem Pferd nicht – er sei aber auch kein getragener Rücken. Offenbar, so seine Vermutung, würde bei der iberisch-französischen Reitweise der Schwung eine geringere Rolle spielen: „Hier werden die Pferde ohne Schwung gearbeitet, er ist nicht erwünscht und vielleicht auch einfach nicht Ziel der Ausbildung.“ Als Paradebeispiel nannte Gerd Heuschmann in diesem Zusammenhang den portugiesischen Reitmeister Nuno Oliveira. Die Dressur-Studien befragten dazu Vertreter der iberisch-französischen Reitweise bis hin zur Spanischen Hofreitschule – wir wollten wissen, was sie von dieser These halten – nachlesbar sind diese Interviews in unserem Heft 2/2008: Schwung und Verstärkungen, welches als Einzelheft vergriffen, aber in unserem Sammelband 2008 enthalten ist.
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Nuno Oliveira formulierte seine Meinung zum Schwung so:
„Schwung heißt, das Pferd in dem Rahmen zu haben, den Sie haben wollen, und dass es in jedem Augenblick dieselbe Energie zeigt, in der Haltung, die Sie wollen, ohne Unterstützung durch Hilfen, so lange wie möglich. Schwung ist nicht, was viele Menschen glauben und predigen. Das Pferd in die Anlehnung treiben, und das Pferd wird rund, dynamisch, und das ist alles? Ein Zeichen von Schwung ist ein ruhiger Kopf. Spektakuläre Bewegung und Zwang – der Unverständige sagt, dass das Pferd vorwärts geht. Ein Pferd, das Schwung hat und seine Hinterhand engagiert, findet die Anlehnung selbst. Sie verlieren den Schwung, weil sich Ihr Körper mehr bewegt als der des Pferdes.“ (Entnommen aus dem Buch: „Zu Hause bei Nuno Oliveira – Momente und Ansichten aus dem täglichen Training“ von Eleanor Russel, Olms Verlag 2007)
Wir baten um Ihre Meinung zu diesem Thema. Die Leserbriefe konnten wir in unserem Heft leider alle nur stark gekürzt abdrucken, deswegen haben Sie hier die Möglichkeit die Leserbriefe in Ihrer ganzen Länge – ungekürzt – nachzulesen.
Leserbrief von Michael Putz und Prof. Dr. Ellen Kienzle
Weitere Leserbriefe zum losen Rücken
Michael Putz, Ellen Kienzle: Leserbrief zum „losen Rücken“
Ist ein „loser“ Rücken wirklich unschädlich?
In Ihrem Heft 1/2008 unter der Rubrik „Im Gespräch: Die Tierärztliche Sicht: Unterschiede zwischen den Reitweisen“ äußert sich Herr Dr. Heuschmann zum „losen“ Rücken beim Barockreiten wie folgt: „Diese Rückenposition (i.e. der „lose“ Rücken) ist für Pferde absolut unschädlich.“
Wir erlauben uns das anzuzweifeln. Zunächst einmal stellt sich uns die Frage, was ist denn eigentlich ein „loser“ Rücken? Wir sind bei Bürger und Zietzschmann (der Reiter formt das Pferd, von Dr. Heuschmann bearbeitete Neuauflage, 2004) auf die Suche gegangen und fanden folgende Zitate: „Wenn ein junges Pferd erstmalig durch einen Reiter bestiegen wird, so wölbt es im Allgemeinen seinen Rücken auf und zieht ihn krampfhaft zusammen, es macht einen Buckel. Hat es sich aber wieder beruhigt, so gibt es sehr bald im Rücken nach, d.h. es lässt ihn durchhängen… Die Aufgabe, dem belasteten Rücken seine natürliche Haltung wiederzugeben, hat ein Teil der Nackenmuskeln mit dem Nackenband. …Dehnt das Pferd den Hals nach vorn, so üben die Nackenmuskeln und das Nackenband eine entsprechende Zugwirkung aus und die Dornfortsätze werden aufgerichtet…Damit wird der Rücken gehoben, d.h. er kommt in seine natürliche Lage zurück….Den Kopfbeugemuskeln im unteren Bereich des Halses darf keine aktive Aufgabe zufallen…“.
Demnach ist ein „loser“ Rücken wohl dann vorhanden, wenn das Pferd den Reiter ohne aktive Anspannung der Rückenmuskeln aber auch ohne nennenswerte Hilfe durch den Zug der Halsmuskulatur am Nackenband trägt. Wenn ein Pferd in verkürztem Tempo und für kurze Zeit so geht, wird es zunächst einmal nicht viel unmittelbaren Schaden nehmen. Längere Ritte, Verstärkungen sowie Seitengänge, insbesondere Traversalen (Rotation der Lendenwirbelsäule) sind mit einer solchen Rückenposition jedoch kritisch zu sehen. In der Tat wird beim Barockreiten häufig nur für extrem kurze Zeit und vorwiegend in kurzen Tempi gearbeitet und auch viel vom Boden aus. Nun hat ein Pferd aber nicht nur einen Bewegungsapparat, sondern auch eine Psyche, ein Herz-Kreislauf-System, eine Lunge und einen Stoffwechsel. Bei üblichen Haltungssystemen kommen diese zu kurz, wenn nur ein knappes halbes Stündchen schön gemütlich gearbeitet wird.
Für temperamentvolle Pferde ist das überwiegende Arbeiten in abgekürzten Tempi unerfreulich, gemütlichere Pferde finden sich damit leichter ab. Gerade diese Pferde sind aber oft sehr leichtfuttrig und bewegen sich weniger spontan. Hier gibt es dann schnell Probleme mit Übergewicht. Das ist nicht nur ein ästhetisches Problem, sondern es führt auch zu einer stärkeren mechanischen Belastung der Gliedmaßen.
Vor allen Dingen aber führt erhebliches Übergewicht auch beim Pferd zu einer Insulinresistenz. Die Konsequenzen sind ähnlich wie bei einem Entzündungsherd im Körper. Beim Pferd ist die Hufrehe eine der schlimmsten Folgen von Übergewicht. Sie kann auch entstehen, wenn keine weiteren Fütterungsfehler, wie z.B. unsachgemäßes Einweiden gemacht werden. Übergewicht ohne reichliche Bewegung zu bekämpfen ist aber sehr schwierig. Lediglich auf Kraftfutter zu verzichten ist nur zielführend, wenn ein sehr spät geschnittenes Heu vorhanden ist, ansonsten muss auch das Heu erheblich rationiert werden. Heu durch Stroh zu ersetzen ist nur in geringem Umfang möglich, da sonst die Gefahr von Verstopfungskoliken besteht. Dass ein Pferd, das überwiegend mit spät geschnittenem Heu gefüttert und wenig trainiert wird, nicht gerade das Erscheinungsbild eines kraftstrotzenden Athleten haben wird, sondern eher einen Heubauch spazieren trägt, muss eigentlich nicht extra erwähnt werden.
Will man das durch Reduktion von Raufutter verhindern, so ist man schnell an einem Punkt angelangt, wo das Kaubedürfnis des Pferdes nicht mehr befriedigt wird (mindestens 1 kg kaufähiges Material/100 kg Körpermasse). Dieses Dilemma lässt sich nur durch ausreichende Bewegung lösen. Ähnlich wie beim Menschen auch, reicht Spazierengehen hierfür nicht aus, es muss ein flotteres Tempo angeschlagen werden. Fettverbrennung ist vor allem in fleißigem Arbeitstrab und im Arbeitsgalopp oder Jagdgalopp zu erwarten, wenn diese Tempi einige Zeit durchgehalten werden. Das Pferd muss aufgrund körperlicher Anstrengung regelmäßig leicht ins Schwitzen kommen. Auf diese Weise wird auch das Herzkreislaufsystem trainiert.
Sehr wichtig ist ein derartiges Training für die Lungenfunktion, da das Bronchialsekret ebenfalls etwa an diesem Punkt wo das Pferd zu schwitzen beginnt flüssiger wird. Dadurch wird der Abtransport von Staubpartikeln aus den Bronchien sehr erleichtert und Bronchitis vorgebeugt bzw. bei bestehender chronischer Bronchitis einer Verschlechterung entgegengewirkt. Wer nicht in der Lage ist, seinem Pferd unter dem Reiter regelmäßig flotte (nicht eilige) Bewegung über einen ausreichenden Zeitraum zu verschaffen, schadet ihm indirekt. Trainingshilfen wie Führmaschine oder Laufband bringen vor allem mehr Bewegung im Schritt, ersetzen aber das frische Vorwärtsreiten nicht vollständig.
Haltungssysteme wie Offenstall und Gruppenauslauf sind in aller Regel nicht geeignet, ruhigeren Pferden genügend sportliche Bewegung zu verschaffen, die Bewegungsanreize sind eher dem Gang vom Kühlschrank zum Fernseher vergleichbar als einem Fitnesstraining. Davon abgesehen ist es gar nicht so einfach einen wirklich gut geführten Offenstall zu finden und für die bei der Barockreiterei so beliebten Hengste besteht diese Möglichkeit ohnehin nicht. Letztendlich ist es in einem industrialisierten, dicht besiedelten Land fast nur unter dem Reiter möglich, einem Pferd ganzjährig sportliche Bewegung zu verschaffen.
„Bodenarbeit“, Roundpen, Longieren etc. sind keine dauerhaften Alternativen, da schnelle Bewegung bei ständigem Wenden über längere Zeit die Pferdebeine bekanntlich sehr strapaziert. Reitweisen und Beschäftigungen mit dem Pferd, die den Aspekt der Bewegung des Pferdes vernachlässigen, tragen wesentlich dazu bei, dass Krankheiten wie Rehe und chronische Bronchitis heute eine sehr weite Verbreitung in der Reitpferdepopulation haben.
Nach Bürger und Zietzschmann (2004) kann man mit „losem“ Rücken aber nicht einfach länger reiten ohne dem Pferd zu schaden, da es in dieser Position passiv nur mit dem Knochengerüst und der unteren Verspannung der Wirbelbrücke (sehnige Anteile der Bauchmuskeln) das Reitergewicht trägt, was nach einiger Zeit für das Pferd unangenehm wird. Es kommt dann zu einem Wechsel zwischen dem durchhängenden Rücken und dem gegen das Reitergewicht angespannten langen Rückenmuskel. Dies führt seiner Ansicht nach zu Rückenschmerzen. Nicht umsonst haben die verschiedensten Heilmethoden rund um „Rückenprobleme“ derzeit nicht nur in der Sportreiterei Hochkonjunktur. Nach Ansicht von Bürger (2006) kann es durch Rückenschmerzen sogar zu Verdauungsstörungen kommen. Eine Wechselwirkung von Viszeralschmerzen (Schmerzen aus dem Bereich innerer Organe) und Rückenschmerzen ist auch aus dem Humanbereich bekannt.
Ein banales Alltagsbeispiel ist „Kreuzweh“ bei Menstruationsbeschwerden.
Am Lehrstuhl der Autorin gab es vor nicht allzu langer Zeit eine Anfrage zu einem kolikanfälligen Pferd aus dem Distanzsport. Zu den empfohlenen und umgesetzten Maßnahmen gehörte auch ein gezieltes über den Rücken reiten. Der Erfolg gibt der Hypothese von Bürger (2006) recht.
Nach unserer Philosophie vom Reiten ist jeder, der sich entschließt, ein Pferd als „Reittier zu missbrauchen“, dazu verpflichtet, sich und sein Pferd zumindest soweit ausbilden zu lassen, dass dieses eine Chance hat, den Reiter nicht nur geduldig zu ertragen, sondern ihn tatsächlich zu tragen. Zweifelsfrei ist die physische und psychische Beeinträchtigung eines Pferdes mit „losem“ Rücken weit geringer als bei Rollkur – aber Rollkur ist schließlich nicht die einzige Alternative zum „losen“ Rücken.
Wie geht es also richtig? Dazu kann man wiederum Bürger und Zietzschmann (2004) heranziehen. Kurz zusammengefasst wird der durch den Reiter belastete Rücken mit einer Brückenkonstruktion verglichen, die am vorderen Ende durch den Zug des Nackenbandes, der Nackenplatte und der oberen Halsmuskulatur an den Dornfortsätzen der Brustwirbel bei gleichzeitig in der Beugephase in den Hanken durchfedernder Hinterhand stabilisiert bzw. etwas angehoben wird. Dadurch kann der lange Rückenmuskel wieder frei arbeiten, das heißt sich wechselseitig an- und abspannen und damit der Fortbewegung dienen. Inwieweit sich die untere Verspannung, d.h. die Bauchmuskulatur aktiv beteiligt, darüber herrscht in der Diskussion um die Biomechanik Uneinigkeit. Hierauf soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Erwähnung verdient allenfalls die Tatsache, dass gut gerittene Pferde nur in Ausnahmefällen einen Bauch haben.
Die in diesem Kontext erwähnten Bewegungsabläufe sind Dehnbewegungen, wie übrigens fast alle Bewegungen in der klassischen Dressur – auch wenn sie für den Betrachter oft aussehen, wie Kontraktionen. Der Reiter sitzt aber etwa in der Mitte des Pferdes, er kann das Pferd durch die unmittelbaren mechanischen Effekte seiner Hilfen nur sehr bedingt zu Dehnbewegungen veranlassen. Natürlich ist es möglich mit Kraft, Hebelgebissen oder Hilfszügeln das Nackenband im Bereich des Genicks mechanisch zu überdehnen, ein Längerwerden des gesamten Halses und ein Öffnen der S-förmigen Halswirbelsäule nach vorne unten ist so nicht möglich. Ebenso kann man das Pferd durch Einwirkung mit den Sporen oder der Gerte dazu bewegen, dass es mit den Hinterbeinen weiter vorfußt und dadurch die lange Sitzbeinmuskulatur dehnt. Da dabei aber in aller Regel der Rücken fest wird, ist es nicht möglich eine gleichmäßige Dehnung des gesamten Bereichs hinter dem Sattel durch rein mechanische treibende Einwirkung zu erhalten. Man kann das Pferd ohne große Hilfengebung dazu veranlassen, den Hals nach vorne fallen zu lassen und damit immerhin die vor dem Reiter liegende Partie der Oberlinie dehnen. Dies gelingt z.B. durch Kneifen in den Mähnenkamm beim Reiten mit hingegebenem Zügel oder durch Reiten über Stangen und kleine Hindernisse (oder durch Bergaufreiten bzw. Klettern), manchmal auch durch einfaches Passivwerden und Hingeben der Zügel.
Dies ist sicherlich eine gute „erste Hilfe“ Methode, wenn weder Pferd noch Reiter im klassischen Sinne korrekt ausgebildet sind und ein guter Ausbilder nicht sofort zur Verfügung steht. Letztlich ist es aber eine Sackgasse, denn die Hinterhand kann so nicht heranschließen; das Pferd kommt auf die Vorhand, eilt oder verhält sich, da der Reiter das Tempo nur unzureichend kontrollieren kann. Es wird ggf. stark schief, und beginnt meist auch den Hals bei festem Genick nach vorne wegzustrecken anstatt sich bei nachgiebigem Genick nach vorwärts-abwärts zu dehnen.
Die gleichmäßige Dehnung kann auf Dauer nur erreicht werden, wenn die Hilfengebung des Reiters auf Dehnbewegungen abzielt. Und dafür ist das Zusammenspiel zwischen treibenden und verhaltenden Hilfen erforderlich. Dies sieht nun nicht etwa so aus, dass der Reiter versucht, den Pferdekopf und –hals mit den Zügeln in eine beigezäumte Position zu zwingen und gleichzeitig mit Kreuz und Schenkeln zu verhindern, dass das Pferd als Folge der Vergewaltigung vorn, hinten nicht mehr vortritt.
Dieses häufig zu sehende missverstandene Zusammenspiel von treibenden und verhaltenden Hilfen ist sicherlich ein Grund, warum viele Reiter sich anderen Reitweisen zuwenden. Das Zauberwort heißt „Zug“. Die Redewendung „da ist kein Zug drin“ ist zweifellos aus der Reitersprache entlehnt und bezieht sich auf eine Organisation, die sich unsystematisch irgendwie so durchmogelt. Die Existenz dieser Redewendung zeigt, dass das Prinzip des „Zugs“ früher durchaus allgemein angewendet und verstanden wurde. Der richtige „Zug“ kommt vom Pferd und geht nach vorne, er hat mit dem Rückwärtsziehen des Reiters zwecks Manipulation der Kopfhaltung nichts zu tun! Der „Zug“ wird zunächst durch die treibenden Hilfen induziert, die Anlehnung wird im wesentlichen durch Treiben verstärkt, das Pferd folgt der nachgebenden Hand, dadurch kommt ein schöner Bogen vor der Hand und eben auch die Beizäumung zustande.
Es gibt verschiedene Varianten dieses Prinzips, wobei die Einwirkung von Kreuz, Schenkel und Hand etwas unterschiedlich sein kann, wesentlich ist aber, dass momentweise eine gewisse Spannung der Muskulatur an die Hand heran aufgebaut und anschließend durch Nachgeben die Dehnung (damit ist nicht in erster Linie das Einnehmen einer Dehnungshaltung gemeint, sondern auch eine begrenzte Dehnbewegung des hoch versammelten Pferdes, und insbesondere die Dehnung der Außenseite des gebogenen Pferdes und damit das Geraderichten!) eingeleitet und auch vom Pferd angenommen wird. Es versteht sich von selbst, dass das nicht ganz einfach ist. (Mehr hierzu siehe unten!) Bei ungeschickter Abstimmung kann es geschehen, dass das Pferd den „Zug“ aufgibt und hinter den Zügel kommt. Der Reiter hat dann keinen „Zug“ mehr auf dem Zügel, er hat „nichts mehr in der Hand“. Das Pferd hat dem Reiter dadurch die Möglichkeit genommen, Dehnungsbewegungen (die für das Pferd durchaus anstrengend sind) zu induzieren und zu kontrollieren, es geht mit schlaffem Rücken, verhält sich und gehorcht bestenfalls noch mechanischen Hilfen. Es kann auch das Gegenteil geschehen, nämlich, dass das Pferd auf den Zügel kommt. Es drängt dem Reiter dann zu stark in die Hand, wird eilig und vorlastig und wird beim Nachgeben noch eiliger werden anstatt sich zu dehnen. Beide Varianten gehen häufig aber nicht zwingend damit einher, dass die Stirnlinie hinter die Senkrechte kommt. Viele aktuelle Diskussionen über korrektes klassisches Dressurreiten erschöpfen sich übrigens darin, dass das Auf-dem-Zügel-Gehen mit dem Hinter-dem-Zügel-Gehen verglichen wird, – das ist aber nicht die Alternative!
Für die Beurteilung, ob das Pferd am Zügel geht, ob der für das betreffende Pferd passende „Zug“ vorhanden ist oder nicht, ist nicht so sehr die absolute Stärke des „Zugs“ ausschlaggebend. Ein Pferd kann am seidenen Faden gehen, ein anderes legt dem Reiter deutlich mehr „Zug“ in die Hand, trotzdem können beide korrekt gehen. Ausschlaggebend ist die Dehnungsbereitschaft. Das Pferd muss der nachgebenden Hand folgen ohne zu eilen oder sich zu verhalten, es muss sozusagen stufenlos verstellbar sein, von der Dehnungshaltung mit der Nase fast am Boden bis zur höchstmöglichen Versammlung und umgekehrt, der Rahmen muss in Verstärkungen deutlich erweitert werden können, und auch die seitliche Dehnung muss durch Nachgeben – ohne Aufgabe der Anlehnung an den äußeren Zügel zustande kommen, – und das alles unter beibehaltung von Takt und Fleiss. Übergänge von einer Gangart in die andere müssen ebenfalls nach dem Prinzip des Rahmenwechsels, des Wechsels von Anspannung und Dehnung zustande kommen und nicht durch die rückwärtswirkende Hand oder durch grobe Sitzhilfen.
Das Pferd muss dazu motorisch, aber auch muskulär ertüchtigt werden. Die entsprechende Muskulatur kann aber nur dann richtig aufgebaut, dehnungsfähig gemacht bzw. einsatzfähig erhalten werden, wenn sie veranlasst wird, sich positiv an- und abzuspannen. Das unverkrampfte Zusammenspiel der beiden großen Systeme, der Rumpfstrecker und der Rumpfbeuger kann ohne positive Spannung nicht optimal funktionieren.
Dies ist unserer Meinung nach auch der Inhalt und das Ziel unserer Reitlehre, nennen wir sie einmal die klassische, deutsche Reitlehre.
Bei diesem Training ist das wiederholte Reiten in richtiger (Vorwärts-abwärts-) Dehnungshaltung von entscheidender Bedeutung. Allerdings sollte dabei beachtet werden, dass es dann besonders wertvoll ist, wenn das Pferd in diesen Reprisen zu mehrfachem Wechsel zwischen Dehnungs- und Gebrauchshaltung veranlasst wird. Nur wenn das Pferd sich dabei bei nachgiebigem Genick vertrauensvoll an die Hand heran dehnt, kann man sicher sein, dass der Rücken tatsächlich hergegeben wird, die Hinterbeine aktiv nach vorne durchschwingen und der gewünschte Trainingsfortschritt erzielt wird.
Allein das Fallenlassen des Halses ist, wie schon gesagt, wenig förderlich. Das heute leider häufig praktizierte Rollkur-Reiten dagegen ist absolut kontraproduktiv; es schränkt das Pferd in seiner Beweglichkeit aus der Schulter stark ein, überdehnt Strukturen im Genick und Hals und vermutlich auch der Lendenwirbelsäule, bringt es auf die Vorhand, schränkt Atmung und Luftsackfunktion ein, bringt es aus dem Gleichgewicht und beeinträchtigt die Sicht in die Bewegungsrichtung. All das führt zu erheblichem Stress und ist wohl kaum geeignet dem Pferd die Hilfen als Code für Dehnbewegungen verständlich zu machen.
Pferde, die von Beginn an bei ihrer Ausbildung unter dem Sattel gelernt und erfahren haben, dass es ihnen in Dehnungshaltung leichter fällt, das Gewicht auf ihrem Rücken zu tragen, haben keine Probleme mit der Bereitschaft sich jederzeit zu dehnen, wenn es Ihnen angeboten wird. (Es ist so ähnlich wie beim Menschen, der spontan den Rücken etwas rundet, wenn er einen Rucksack tragen soll.) Das vertrauensvolle Herantreten an die Hand bzw. an das Gebiss, wird dann auch zur Selbstverständlichkeit, wenn sie erfahren haben, dass der Reiter ihnen über die Anlehnung hilft, ihren Job als Reitpferd leichter zu erfüllen, dass er sie unterstützt und ihnen das Ausbalancieren mit dem Reitergewicht erleichtert. Selbstverständlich kommt dann auch ganz schnell der Punkt, an dem man dem Pferd sagen muss: Herantreten an die Hand ist das Eine, sich auf die Hand legen, Lümmeln ist aber etwas Anderes.
Ein (Korrektur-)Pferd, welches diese Zusammenhänge erst kennenlernen muss, welches noch nicht erfühlt hat, dass Dehnungshaltung auch unter dem Reiter erlaubt ist, ja dass es sich in dieser Haltung entspannen und erholen kann, muss diesbezüglich konditioniert und überzeugt werden:
Dazu wird die Anlehnung, im wesentlichen durch vermehrtes Treiben in die aushaltende Hand hinein, straffer, keinesfalls aber unelastisch gestaltet, sodass das Pferd animiert wird, Entspannung zu suchen, indem es seinen Hals öffnet in Richtung Dehnungshaltung. Dabei muss der Reiter geradezu in sein Pferd hineinlauschen, damit er auf keinen Fall den Augenblick verpasst, in dem das Pferd, auch nur ansatzweise, entsprechend reagiert. Er muss ihm durch Abspannen seiner vorher elastisch angespannten Muskeln zeigen, dass er bereit ist, seine Hände mitnehmen zu lassen, ohne dabei aber die Verbindung aufzugeben. Ein leichtes Vornübersitzen (Vorwärtssitz) gibt dem Pferd in diesem Moment eine zusätzliche positive Bestätigung. Er muss aber auch sofort wieder das Pferd vermehrt schließen, den Druck in die Hand hinein wieder verstärken, wenn die Dehnung nicht ausreichend vorwärts-abwärts angenommen wurde oder der „Zug in die Hand hinein“ (siehe oben) verloren ging. Wird dieses Wechselspiel geschickt und wohl abgestimmt auch nur ein, zwei Tage konsequent betrieben, lernt jedes Pferd, die Dehnungshaltung (wieder) zu schätzen. Es muss dahin gehend konditioniert werden, dieses kurzfristige verstärkte „Schließen“, einschließlich des Verkürzens der Zügel nur als zwanglose Vorbereitung, als Voraussetzung für das anschließende „Sich-Dehnen-Dürfen“ anzusehen. Allerdings können sich bei Pferden, die mittel- oder längerfristig mit festgehaltenem Rücken geritten wurden, Mängel in der Dehnungsfähigkeit der Rumpfstrecker entwickelt haben, die nur längerfristig behoben werden können, und eventuell neben dem korrekten Dehnen unter dem Reiter auch weiterer Rehabilitationsmaßnahmen wie z.B. Physiotherapie bedürfen.
Bei all dieser Arbeit geht es nur sekundär darum, beim Pferd Schwung zu erzielen. Leider denken viele im Zusammenhang mit schwungvollem Gehen des Pferdes vornehmlich an Verstärkungen im Trab und Galopp, was aber nur ganz begrenzt berechtigt ist. Selbstverständlich wird ein schwungvoll gehendes Pferd im Rahmen seiner Möglichkeiten Trab- und Galoppverstärkungen besser zeigen können; zunächst einmal kommt es aber darauf an, dass das Pferd lernt, dank guter Losgelassenheit, besonders in seinem Bewegungszentrum Rücken, und vertrauensvollem Herantreten und –springen an die Hand mit den Hinterbeinen vermehrt nach vorne durchzuschwingen und in der Beugephase in der Hintergliedmaße vermehrt durchzufedern. So gesehen ist die dehnende Arbeit eine conditio sine qua non sowohl für mehr Schubkraft als auch für vermehrtes Heranschliessen der Hinterbeine, also für reelle Lastaufnahme in der Versammlung.
Das oben bereits erwähnte vertrauensvolle Herantreten an eine gute, freundliche und vom Sitz unabhängig getragene Hand ermöglicht dem Reiter, „Zug“ im Pferd zu erzeugen. Ein Pferd, welches gelernt hat, auf „Zug“ zu gehen, ist so konditioniert, dass es sich sofort aufgefordert fühlt, aktiver, vor allem mit den Hinterbeinen, abzufußen und heranzuschließen, wenn der Reiter kurzfristig vermehrt an die aushaltende Hand herantreibt, von hinten etwas mehr Druck aufbaut; es hat nämlich ganz konsequent erlebt, dass dieser verstärkte Druck sofort wieder nachlässt, wenn es sich wieder aktiver und frischer nach vorne orientiert.
So gerittene Pferde reagieren zunehmend auf impulsartige Hilfen und müssen nicht ständig aktiv getrieben werden. Außerdem sind sie in der Lage, einfach durch Veränderungen der positiven Spannung der Rumpfmuskulatur, sichere, taktreine Übergänge, von einer Gangart in die andere, innerhalb einer Gangart von einem Tempo ins andere, aber auch in die Piaffe und aus der Piaffe, z.B. in die Passage etc. zu zeigen. Dasselbe gilt auch für das Reiten von Wendungen bis hin zur Pirouette. Besonders das Reiten von Übergängen durch wechselnde Spannung ist neben der ständigen Dehnungsbereitschaft eines der wichtigsten Kriterien korrekter Ausbildung, – der Autor bezeichnet deshalb die Übergänge als die Momente der Wahrheit.
Dieser Maßstab gilt auch für barockgerittene Pferde; es muss nicht sein, dass sie in Übergängen und Wendungen häufig mit Taktproblemen zu kämpfen haben. Eine scheinbar taktmäßige, gesetzte Piaffe ist wenig wert, wenn das Pferd dabei nicht vorwärtsorientiert ist und nicht in der Lage ist, taktmäßig herauszutraben oder sogar heraus zu passagieren; auf mich wirkt solches Piaffieren abgerichtet.
Wenn wir nun an unsere Ausbildungsgrundsätze denken, wird der logische Zusammenhang klar, dass wertvolle geraderichtende Arbeit erst dann wirkungsvoll möglich ist, wenn das Pferd losgelassen, mit gesunder Gehfreude vertrauensvoll an die Hand herantritt und –springt, – also „Zug drin ist“. Denn nur dann lässt sich die kürzere Körperseite durch die Hilfengebung dehnen. Fehlt der Zug, so ist es nur möglich, die längere Körperseite durch die Hilfen zu verkürzen, was eher kontraproduktiv ist. Das ist übrigens der Sinn des Steinbrechtschen Satzes „Reite Dein Pferd vorwärts und richte es gerade!“ Leider wird dabei häufig vergessen, dass dabei auch gute Gelassenheit notwendig ist und „Zug“ nicht bedeutet, dass das Pferd eilt und auf die Hand geht. Deshalb wird oft über Tempo einfach „schneller“ geritten, – Ergebnis: fester Rücken und hinten heraus arbeitende Hinterbeine. Dieser Fehler wird zu Recht kritisiert, ist aber eben nicht ein zwangsläufiges Ergebnis des Arbeitens nach der Reitlehre, sondern einer der vielen möglichen Irrtümer beim Versuch der Umsetzung.
Der richtige Umgang mit der Schiefe, die fast jedes Pferd mehr oder weniger von Natur aus hat, ist für jeden Reiter, der Pferde liebt und entsprechend möglichst pferdegerecht reiten möchte, eine ständige Herausforderung, – zunächst einmal intellektuell, was das richtige Verständnis anbelangt, und dann natürlich reittechnisch, bezüglich der Fertigkeiten. Erst durch geraderichtende Arbeit werden Rücken- und Bauchmuskeln nahezu symmetrisch ausgebildet, lernt das Pferd, sich auch unter dem Reiter voll auszubalancieren und sich auf beiden Händen gleich behende bewegen zu können.
Jeder, der das einmal richtig erfühlt, auf einem entsprechend korrekt ausgebildeten Pferd erlebt hat, kann nachvollziehen, dass effektive geraderichtende Arbeit dann am leichtesten funktioniert, wenn das Pferd bei nachgiebigem Genick „aufmacht“ (die S-förmige Halswirbelsäule vorwärts-abwärts zur Streckung bringt) und bei aller Gehfreude gelassen vorwärts zu gehen bereit ist, ich sage gerne „wenn es stets vorwärts denkt“.
Überhaupt nicht in Abrede stellen möchte ich, dass ein großer Teil unserer wunderbaren, modernen Warmblutpferde, gerade auch im Turniersport, nicht nach diesen Grundsätzen geritten sind. Vielfach glauben zwar die Reiter nach dieser Reitlehre zu arbeiten, kommen aber mangels richtigen Verständnisses unserer Ausbildungsgrundsätze, gerade auch was Versammlung anbelangt zu völlig falschen Ergebnissen. Oftmals gehen die Pferde zusammengezogen und in ihrer Balance gestört, deshalb auch ohne Selbsthaltung; sie wirken gestresst, manchmal auch richtiggehend gequält, auf jeden Fall mangelt es ihnen an freudvoller Ausstrahlung. Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, die Reitlehre sei falsch und dafür verantwortlich. Gutes Reiten, egal auf welchem Niveau, ist etwas höchst Anspruchsvolles und erfordert gute Kenntnisse und Fertigkeiten, ganz besonders wenn es darum geht ein Pferd zu schulen, d.h. es für diese Aufgabe zu ertüchtigen oder gar zu korrigieren oder zu rehabilitieren.
Zu leicht macht man es sich aber, wenn man wegen der zahlreichen Abwege, die am Pfad eines jeden lauern, der ernsthaft versucht die klassische deutsche Reitweise nachzuvollziehen, von vornherein eine Vereinfachung vornimmt, sich bestimmte Pferdetypen auswählt, die sich dafür eignen und sich diese untertourig mit geringer Muskelspannung also schlaffem Rücken hinter den Zügel spielt und dann behauptet, dass das Gehen unter dem Reiter mit „losem“ Rücken für das Pferd absolut unschädlich ist. Nicht zuletzt ist es sehr kleinmütig vor der unendlich schwierigen Aufgabe des richtigen Dressurreitens zu kapitulieren, sich für den Fehler, den man für das kleinere Übel hält zu entscheiden, und sich womöglich noch über diejenigen lustig zu machen, für die reiten eben deshalb nicht ganz einfach ist, weil sie es wirklich versuchen.
Der Verfasser arbeitet seit vielen Jahren ständig auch mit Schülern zusammen, die „Barockpferde“ reiten. Dabei lässt sich immer wieder feststellen, dass es auch solchen Pferden hervorragend bekommt, wenn sie korrekt nach den Ausbildungsgrundsätzen der klassischen, deutschen Reitlehre geritten werden. Selbst bei Schauvorführungen und den dabei vorkommenden speziellen Übungen wirkt sich das verbesserte Gerittensein positiv aus.
Seriöses, korrektes Reiten nach den Ausbildungsgrundsätzen der klassischen deutschen Reitlehre ist optimal pferdegerecht – und zwar für alle Pferdetypen – und damit angewandter Tierschutz für das Reitpferd.
Michael Putz
Prof. Dr. Ellen Kienzle