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Die Philosophie des Schulterherein

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Schulterherein gilt bei den Vertretern der klassischen Reitkunst als die Schlüssellektion der klassischen Reiterei. Die FN misst dem in den ersten Ausbildungsabschnitten hingegen weit weniger Wert bei, jedenfalls, solange man sich nur am Geschriebenen orientiert. Zwischen den beiden Extremen gibt es fast jede beliebige Einschätzung dieser Lektion.

François Robinchon de la Guérinière, (* 1688, † 1751)

Als Erfinder des Schulterherein gilt der Franzose François Robichon de la Guérinière, dieser Lektion widmet er sich ausführlich in seinem Buch „Ecole de Cavalerie“, das 1733 erschienen ist. Aber tatsächlich findet sich die Übung, in abgewandelter Form, bereits früher beim Duke of Newcastle. Sein Werk „A central system of horsemanship“ erschien schon 1658. Er erkannte die Wichtigkeit, die Schultern des Pferdes vorzurichten (vor im Sinne von herein) und das innere Hinterbein stärker zu belasten, um daraus die versammelnden Schulen zu entwickeln.

François Robinchon de la Guérinière Schrieb: „Diese Schule (das Schulterherein) entbindet die Schultern, weil das Pferd in jedem Schritt, den es in dieser Stellung macht, mit dem inneren Vorderschenkel vorwärts über den äußeren schränkt, und den inneren Fuß über und auf die Linie des äußeren Fußes setzt. Es ist leicht zu begreifen, dass durch diese Bewegung, welche die Schulter in dieser Stellung zu machen genötigt ist, alle Triebfedern dieses Teils in Tätigkeit gesetzt werden. Das Schultereinwärts bereitet das Pferd vor, sich auf die Hanken zu setzen; denn bei jedem Schritt, den es in dieser Stellung tut, bringt es den inneren Hinterschenkel unter den Leib, und setzt ihn über den äußeren, welches es, ohne die Hanken zu senken, nicht verrichten kann.“

Dieses Zitat zeigt auch, dass de la Gueriniere seine Pferde hinten durchaus kreuzen ließ – ein immer wieder leidiger Punkt, wenn darüber diskutiert wird, ob das Schulterherein auf drei oder vier Hufspuren, und mit gekreuzten Hinterbeinen oder gerader Hinterhand richtig ist. Festhalten lässt sich wohl: Richtig war es immer so, wie es ein Reitmeister für seine Ziele am zweckdienlichsten hielt!

William Cavendish, Duke of Newcastle

Newcastle beschreibt die Übung so: „… so bedienet Euch der beiden Schenkel, haltet es mit dem auswendigen in Gehorsam und mit Eurem inwendigen Schenkel treibet den inwendigen hinteren Fuß noch zu dem auswendigen hintern Fuß hinaus, so muss es die Hüften biegen, dann die hinteren Schenkel kommen unter den Bauch hinunter, und indem die Füße zusammengerücket sind, so kann das Pferd leichter auf den Hüften bleiben.

Gustav Steinbrecht

Machen wir einen großen Zeitsprung bis hin zu Gustav Steinbrecht, dessen Werk „Gymnasium des Pferdes“ sozusagen die Bibel der deutschen Reiterei darstellt. Auch er legt viel Wert darauf, dass beim Schulterherein auf keinen Fall Takt und Durchlässigkeit verloren gehen dürfen. „Reiner Gang und reines Übertreten müssen daher stets bei dieser Arbeit der Leitfaden sein.“

Die Ausführung der Übung soll bei ihm so aussehen, dass die Schultern oder die Vorhand herein, also auf die innere Linie, die Kruppe demnach auf die äußere Linie gerichtet ist, wodurch das Pferd gezwungen wird, je nach dem Grade seiner seitlichen Abstellung mit den inneren Beinen vor und über die äußeren zu treten. Man bemerke, dass Steinbrecht offensichtlich kein richtig oder falsch im Abstellungsgrad kennt!

Zur Ausbildung empfielt er unbedingt, die Abstellung nur stufenweise zu vergrößern. Er beginnt mit der Übung Schultervor, bei der die äußere Schulter soweit von der Bande weggeführt wird, dass die innere Schulter eben so vor die innere Hüfte gerichtet wird. Wenn der äußere Hinterfuß dabei nicht ausfallen soll, bedingt dies einen ersten Grad von Rippenbiegung, der die weitere Ausbildung des Pferdes auf allen gebogenen Linien möglich macht. Das Schulterherein baut diese Rippenbiegung weiter aus und muss ebenfalls stufenweise gesteigert werden. Anfangs führt man die Vorhand nur um ein bis anderthalb Fuß nach innen, damit das Pferd erst einmal lernt, mit dem inneren Fuß nicht gegen, sondern vor den äußeren zu treten.

Deutsche Reiterliche Vereinigung, FN

Im Aufgabenheft der LPO der FN wird beschrieben, wie die Übung Schulterherein in ihrer turniermäßigen Ausführung aussehen soll. Es handelt sich also nicht um einen Weg, es dem Pferd beizubringen, sondern um das Endergebnis. Hier gibt es kein Wenn und Aber mehr über den Grad der Abstellung: „Die Vorhand des Pferdes wird so weit in die Bahn hineingeführt, dass die äußere Schulter des Pferdes vor die innere Hüfte des Pferdes gerichtet ist. Der innere Hinterfuß spurt in die Richtung des äußeren Vorderhufes. Das Pferd ist um den inneren Schenkel gleichmäßig gebogen und bewegt sich auf 3 Hufschlaglinien.“

Die Übung taucht erst in Prüfungen der Klasse M auf. Ein Gegensatz also zu den älteren Klassikern, die das Schulterherein bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt der Pferdeausbildung einsetzten.

Dennoch räumt auch die FN letztlich dem Schulterherein eine herausragende Bedeutung ein, wie im übrigen allen Seitengängen. Dienten diese doch dazu, so nachlesbar in den „Richtlinien für Reiten und Fahren Band 2“, der „Gymnastizierung des Pferdes, der Vervollkommnung der Geraderichtung und der Verbesserung der Durchlässigkeit…(Sie) festigen das Gleichgewicht und machen das Pferd gehorsamer und geschmeidiger. “ Besonders wird betont, dass ein Pferd nur dann wirklich gerade gerichtet sei, wenn es alle Seitengänge, also auch das Schulterherein, sicher beherrsche.

Nuno Oliveira

Auf der iberischen Halbinsel ging die Reiterei etwas andere Wege als in Deutschland. Der berittene Stierkampf war hier lange Zeit die einzige Richtlinie. Nuno Oliveira ist vermutlich der in Deutschland am bekanntesten gewordene Vertreter einer Reitweise, die die Vorgaben und Ideale der Renaissance-Reiter mit den Erfordernissen der Ausbildung eines Stierkampf-Pferdes verbindet. Er sagt, dass der Hals des Pferdes festgestellt werden und der Reiter eine Aufrichtung der Vorhand vorgeben solle. Dies geschehe, nachdem man die Hinterhand gymnastiziert habe, indem man diese aktiviere und zum Untersetzen bringe. Das korrekte Untergreifen der Hanken sei es, was die Aufrichtung vorne ausmache und nicht umgekehrt. Die Übung des Schulterherein sei es, korrekt im Schritt und erst recht im Trab ausgeführt, welche das Pferd dazu bringe, die Hinterbeine beweglich zu machen, sie zu aktivieren und die Vorhand mit höherer Bewegung. Ganz im Gegensatz zur Einschätzung der FN, die das Schulterherein ja verhältnismäßig spät einführt, sagt Oliveira, dass er die Dressur eines Pferdes nie mit einer anderen Lektion beginne als mit dem Schulterherein. Dies ist sicher sowohl auf die einzelne Arbeitseinheit als auch auf den gesamten Ausbildungsweg des Pferdes zu beziehen.

Man darf allerdings annehmen, dass ein genialer Reiter wie Oliveira es lediglich nicht für nötig hielt, über die Elemente der Ausbildung zu schreiben, die notgedrungen vor dem ersten Schulterherein in der Pferdeausbildung erfolgen müssen. Zu selbstverständlich dürften sie ihm gewesen sein. So sollte man sich als „Normalreiter“ vielleicht nicht dazu hinreißen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes von Anfang an Schulterherein reiten zu wollen, wenn gewisse Grundlagen noch nicht erfüllt sind.

Francois Baucher

Dazu soll zum Schluss noch Baucher, der umstrittene, viel diskutierte und sicher auch häufig falsch verstandene Vertreter der französischen Schule das Wort erhalten:

„Das Schulterherein scheint in der Durchführung für ein Pferd zwar einfach. Man soll sich jedoch hüten, diese Herausforderung an die Hand zu nehmen, bevor man nicht die leichteren Aufgaben gemeistert hat.“ (Sandra Will)

 

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